Dezember 2015
Eine Bewertung aus Sicht einer Bildung für nachhaltige Entwicklung.
Von Patrick Brehm und Dr. Ignacio Campino (BiWiNa e.V.)
Der mediale Aufschrei war groß: ausgerechnet die Grün-Rote Landesregierung Baden-Württembergs macht Wirtschaft zum Pflichtfach aller Schülerinnen und Schüler des Landes! Sofort mutmaßten Medien einen Kniefall vor der einflussreichen süddeutschen Unternehmenslobby.[1] Wirtschaft in der allgemeinen Bildung? Das kann ja nicht gutgehen.
Vielsagend der öffentliche Reflex, mit dem Fach Wirtschaft automatisch eine kapitalfreundliche und eine arbeitnehmer- bzw. umweltfeindliche Manipulation junger Menschen zu verbinden. Doch fällt unser Wohlstand nicht vom Himmel und die Art und Weise des Wirtschaftens muss insbesondere im Fokus stehen, wenn wir eine Transformation zu einer nachhaltigen Gesellschaft zum Ziel haben.
Gegen die Begründung eines allgemein bildenden Fachs Wirtschaft lässt sich nichts Grundsätzliches einwenden: Das Fach solle "Kindern helfen, zu mündigen Wirtschaftsbürgern zu werden“, so Wirtschaftsminister Nils Schmid (SPD)[2]. Denn auch ein Abiturient oder eine spätere Natur- oder Geisteswissenschaftlerin ist als politische (Wahl-)Bürgerin und Konsument/in tagtäglich mit wirtschaftlichen Fragen konfrontiert. Die Zahl der Privatinsolvenzen macht deutlich, dass der Umgang mit Geld, Konsum und Produktion kein Expert/innenwissen einer bildungsbürgerlichen oder akademischen Mittel- und Oberschicht sein dürfen. Schülerinnen und Schüler sollen die Fähigkeiten bekommen, die Wirtschaft als ein extrem vielfältiges Betätigungsfeld kennen zu lernen, um so verantwortlich darin handeln zu können. Für die gesellschaftliche Transformation zur Nachhaltigkeit sind nämlich umfassende Kenntnisse über die Gesellschaft und ihre Teilsysteme erforderlich, die von der Transformation betroffen sein werden. Diese gehen vom Steuersystem über das Rentensystem bis hin zur Energieversorgung und Mobilität. Junge Menschen müssen befähigt werden, nicht nur die heutigen, sondern auch die neu zu entwickelnden und zu implementierenden Systeme zu verstehen und auf dem Wege demokratischer Prozesse zu verändern. Ohne gute Wirtschaftskenntnisse wird das nicht möglich sein. Die Einführung eines allgemein bildenden Unterrichtsfachs „Wirtschaft“ ist daher ein wichtiger Schritt zu einer nachhaltigen und demokratischen Gesellschaft.
Entscheidend ist jedoch, was gelehrt wird. Und an dieser Stelle ist Vorsicht angebracht. Denn die meisten Lehrbücher und Bildungspläne vermittelten bisher ein in der Mainstream-Ökonomie gehegtes Weltbild einer „wunderbaren Welt der Marktwirtschaft“. Kritische Stimmen und plurale ökonomische Ansätze kamen gar nicht bzw. nur höchst inkonsistent zu Wort oder wurden in Bausch und Bogen abgelehnt[3].
Insofern bedarf es eines genaueren Blicks in den neuen Bildungsplan[4], der in seinem Vorwort sofort mit einer zentralen Frage des nachhaltigen Wirtschaftens einsteigt: „Wie kann eine effiziente und gleichzeitig gerechte Versorgung trotz begrenzter Ressourcen und daraus resultierender Verwendungskonkurrenzen erreicht werden?“[5]
Die Unternehmerperspektive kommt zur Beantwortung dieser Eingangsfrage wahrlich nicht zu kurz. Der Vorwurf, der Bildungsplan sei eine „neoliberale Attacke“[6], hält einer genaueren Untersuchung jedoch nicht stand. Die Verfasser des Curriculums gehen neue Wege, um tatsächlich eine mehrperspektivische ökonomische Bildung zu konzipieren. Neben einer besseren beruflichen Orientierung fokussieren sie eine „Stärkung der Mündigkeit der Schülerinnen und Schüler“, die „in ökonomisch geprägten Lebenssituationen auch die Interessen anderer […] berücksichtigen“ (S. 4).
Nun sind hehre Worte einer aufklärerischen und gemeinwohlorientierten Pädagogik in Lehrplanvorworten nicht Neues. Im nordrhein-westfälischen Bildungsplan für die Höhere Berufsfachschule Wirtschaft[7] findet sich z.B. ein Globalziel, das zu 100 Prozent mit einer Bildung für nachhaltige Entwicklung übereinstimmt (S.11). Doch die konkrete Ausgestaltung dieses Ziels durch die vorgegebenen Lernfelder und Kompetenzformulierungen fällt, was Erfordernisse einer nachhaltigen Entwicklung betrifft, stark ab. Hauptgrund hierfür dürfte dort insbesondere die einseitige Ausrichtung des Bildungsplan am sogenannten „Leitfach Betriebswirtschaftslehre“ sein – hier liegt die Gefahr einer arbeitgebernahen bzw. „neoliberal“ eingefärbten Wirtschaftspädagogik auf der Hand.
Den Verfasser/innen des neuen baden-württembergischen Bildungsplans Wirtschaft 2016 hingegen gelingt es, diese Falle durch ihre gewählte Konzeption zumindest im Ansatz zu vermeiden. Hier sind zwei Neuerungen hervorzuheben, die in schulischen Bildungsplänen in der Vergangenheit unüblich waren:
Sehr begrüßenswert ist z.B., dass unter den Leitperspektiven Bildung für nachhaltige Entwicklung und Verbraucherbildung als zwei unterschiedliche Unterrichtsziele anerkannt werden. Denn oftmals werden diese in medialen Diskursen vermengt, so dass die eigentlichen Zielsetzungen verloren gehen.
Doch ebenso wie Vorworte keinen unmittelbaren Einfluss auf die Unterrichtsrealität haben, so gibt auch eine Zuordnung von Leitperspektiven zu Themen und Kompetenzzielen keine Garantie, dass schulische Bildungspraktiker/innen Ziele z.B. einer Bildung für nachhaltige Entwicklung konsistent im Unterricht beachten. Unterricht gestaltet sich vor allem entlang von Themenfeldern oder – wie in diesem Bildungsplan vorgesehen – Kompetenzformulierungen. Hier müssten Aspekte der BNE gut hervortreten, damit sie in den Unterrichtszielen genügend Raum bekommen.
Das Curriculum zeichnet sich tatsächlich durch einige erfreuliche Ansätze aus, Nachhaltigkeit in den Wirtschaftsunterricht zu integrieren:
Dennoch zeigt sich, dass die ökonomische Bildung im Schulwesen weiterhin große Lücken aufweist, wenn es um die Integration der Nachhaltigen Entwicklung in fachwissenschaftliche und curriculare Themenstellungen geht:
Darüber hinaus finden sich Kompetenzformulierungen, die zwar prinzipiell eine Offenheit gegenüber Nachhaltigkeitsaspekten aufweisen, deren Umsetzung im Unterricht aber davon abhängig ist, dass die Lehrenden sich mit der fraglichen Thematik bereits beschäftigt haben und diese Erweiterungen selbstständig vornehmen – der Bildungsplan gibt an manchen Stellen nicht die notwendigen Hinweise. Bei der Erarbeitung des Marktgleichgewichts auf dem Arbeitsmarkt besteht zum Beispiel die Gefahr, dass der traditionellen neoklassischen Lösung der Vorzug gegeben wird, obwohl hier alternative Sichtweisen in starke Konkurrenz zur Scheinproblematik etwa der „Mindestlohnarbeitslosigkeit“ treten. Die in den meisten Bildungsplänen zentrale Position der „Konjunkturtheorie“ wird gemäß Leitperspektive BNE in Richtung „Komplexität und Dynamik nachhaltiger Entwicklung“ erweitert – was darunter zu verstehen ist, dürfte den meisten Bildungspraktiker/innen jedoch nicht wirklich klar sein, zumal es entsprechendes Unterrichtsmaterial weder in klassischer Schulbuchliteratur gibt noch von Seiten freier Bildungsträger angeboten wird. Die vom Grundsatz her offene Formulierung zur Beurteilung protektionistischer Maßnahmen lässt sowohl eine ablehnende wie eine positive Bewertung zu. Dass allerdings nur der Protektionismus einem Urteil unterzogen werden soll und nicht die Freihandelstheorie, lässt den Schluss zu, dass der Bildungsplan eine tendenziell freihändlerische Position nahelegt. Hier hängt die Unterrichtsgestaltung wieder einmal von den Fachkenntnissen bzw. der Beachtung des Beutelsbacher Konsenses ab (der in ökonomischen Fragen durch einseitige Beachtung wirtschaftswissenschaftlicher Denkschulen oftmals unbeabsichtigt übergangen wird).
Der betriebswirtschaftliche Teil des Bildungsplans geht weit über allgemein bildende Kompetenzen hinaus. Es ist offensichtlich, dass die Lernenden hier mit unternehmerischem Denken konfrontiert werden. Wer diesen Themenbereich isoliert liest, wird womöglich in der Tat zu dem Schluss kommen, dass arbeitgebernahe Lobbyverbände ihren Einfluss auf die Gestaltung des Bildungsplans genommen haben. Es stellt sich durchaus die Frage, ob angehende Abiturienten bereits über tiefere Einblicke ins Unternehmensmanagement verfügen müssen. Die „SWOT-Analyse“ ist ein typisches Instrument zur Entwicklung eines Business-Plans für Unternehmensgründer. Die Option „Unternehmer“ soll also unter Lernenden wieder eine realistische Alternative werden. Dies liegt mit Sicherheit im Interesse einer arbeitgebernahen Industriepolitik, kann aber mitnichten „neoliberal“ (im pejorativen, nicht im wirtschaftshistorischen Sinne) genannt werden.
Insgesamt kann man die Anhörungsfassung des neuen Bildungsplans zur Wirtschaft für allgemein bildende Schulen in Baden-Württemberg als Schritt in die richtige Richtung begrüßen. Seine Struktur ist in zweierlei Hinsicht multiperspektivisch: erstens durch die gewählten Rollenperspektiven der Lernenden (die bis auf die fehlende globale Perspektive der Konzeption entspricht, die in der von BiWiNa herausgegebenen „Themensammlung Wirtschaftskompetenz“[8] gewählt wurde), zweitens durch die Beachtung von BNE als Leitperspektive bei den Kompetenzformulierungen. Darüber hinaus finden Fragen der Nachhaltigen Entwicklung in deutlich mehr Kompetenzformulierungen ihren Platz, als man dies von früheren Bildungsplänen gewohnt war.
Dennoch weisen die Kompetenzformulierungen noch zahlreiche Lücken und Inkonsistenzen auf, wenn es um eine durchgängige Integration der Nachhaltigkeit geht. In manchen Zielen werden entsprechende Fragen komplett übergangen; in anderen Formulierungen ließe die Wortwahl zwar eine entsprechende Öffnung des Unterrichts zu, doch fehlt dort der nötige Hinweis, wie der Anschluss an Themen der Nachhaltigkeit bewältigt werden soll.
Hier deutet sich ein bisher noch nicht befriedigend gelöstes Grundsatzproblem der Diskussion um Bildung für nachhaltige Entwicklung an. Es ist relativ leicht, in Globalzielen die Perspektive der Zukunftsfähigkeit der gesellschaftlichen Strukturen einzufordern. Dies wird ja bereits seit Jahren in zahlreichen Curricula so getan. Auch der neue Schritt, BNE als Leitperspektive in den Kompetenzzielen zu benennen, hilft noch nicht aus der Bredouille, solange die Wirtschaftswissenschaft bzw. die ökonomische Fachdidaktik nicht den entscheidenden Schritt machen, Nachhaltigkeit in ihre Modellbetrachtungen zu integrieren. Gerade im Sek II-Plan mutet die Zuordnung von Kompetenzformulierungen zur Leitperspektive BNE vielfach etwas willkürlich an. Wenn Bildung für nachhaltige Entwicklung in stark betriebswirtschaftlich ausgerichteten Unterrichtsreihen tatsächlich Beachtung findet, wäre dann eher einer innovativen Herangehensweise der unterrichtenden Lehrkräfte geschuldet als dem neuen Bildungsplan. BNE stößt dort an ihre Grenzen, wo sich traditionelle Fachsystematiker gegen die Hinterfragung ihrer alt hergebrachten Grundlagen wehren. Dieser Diskurs muss noch weiter intensiviert werden.
In jedem Fall zeigt sich, dass eine pauschale Gleichsetzung eines „Schulfachs Wirtschaft“ mit „Neoliberalismus“ oder „Wirtschaftslobby“ als unsachlich und konfrontativ abgelehnt werden muss. Die ausführliche Behandlung der Unternehmerrolle stellt per se keine Verletzung des Beutelsbacher Konsenses dar. Gerade die Bezüge zu den Leitperspektiven machen offensichtlich, dass die Macher des Bildungsplans explizit multiperspektivisch an Wirtschaftsfragen herangehen. Und wer wollte leugnen, dass das Problem der Privatverschuldung in den letzten Jahren keine lebensweltlich relevante und gesellschaftlich problematische Frage sei? Auch Fragen der Berufswahl oder der Unternehmensgründung sind zunehmend in den Fokus einer wirtschaftspolitisch interessierten Öffentlichkeit gerückt und dürfen nicht als per se „marktliberal“ oder „arbeitgebernah“ disqualifiziert werden (wie es in Kreisen der Ökonomiekritik allerdings guter Brauch ist). Es kommt eben auf die gewählte didaktische Ausrichtung an: Stehen einseitige wirtschaftspolitische Denkschulen im Vordergrund oder werden hier konkurrierende Ansätze vorgestellt? Welche ökonomische Zielsetzungen werden wie darstellt und bewertet? Auch auf längere Sicht dürfte hier der Bedarf für curriculare Forschung und gesellschaftliche Diskussion notwendig bleiben, dass zeigt auch noch dieser Bildungsplan. Dass sich zunehmend Medien für diesen Bereich interessieren, ist ein gutes Zeichen.
Die Autoren danken Marianne Middendorf und Dr. Jürgen Born für sachkundige Hinweise zu diesem Artikel. Er ist Grundlage der Position von BiWiNa e.V. zum neuen Bildungsplan Wirtschaft in Baden-Württemberg.
[1] Lange, Dirk: Schulfach Wirtschaft – ein Kniefall vor den Arbeitgebern. In: ZEIT online vom 16.11.2015. http://www.zeit.de/wirtschaft/2015-11/schulfach-wirtschaft-oekonomie?utm_content=zeitde_redpost_link_sf&utm_campaign=ref&utm_source=facebook&utm_medium=social&utm_term=facebook_zonaudev_int&wt_zmc=sm.int.zonaudev.facebook.ref.zeitde.redpost.link.sf
[2] Osel, Johann: Neues Schulfach in Baden-Württemberg – Lernen fürs Leben. In: Süddeutsche Zeitung vom 22.1.2015.
http://www.sueddeutsche.de/bildung/neues-schulfach-in-baden-wuerttemberg-lernen-fuers-leben-1.2305717
[3] Siehe hierzu die aktuelle Schulbuchstudie von Patrick Brehm: „Didaktische Aspekte der Nachhaltigen Entwicklung in aktuellen VWL-Lehrbüchern der schulischen Bildung“. Hrsg. Lokale Agenda der Stadt Düsseldorf. http://www.vwl-nachhaltig.de/home/schulbuchstudie/
[4] Bildungsplan 2016 - Allgemein bildende Schulen Gymnasium: Wirtschaft / Berufs- und Studienorientierung (WBS) (Anhörungsfassung), Stand vom 19.11.2015. Hrsg.: Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg http://www.bildungsplaene-bw.de/site/bildungsplan/get/documents/lsbw/export-pdf/a/gym/WBS/bildungsplan_a_gym_WBS.pdf
Sowie: Bildungsplan 2016 - Allgemein bildende Schulen Gymnasium: Wirtschaft (Anhörungsfassung), Stand vom 19.11.2015. Hrsg.: Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg http://www.bildungsplaene-bw.de/site/bildungsplan/get/documents/lsbw/export-pdf/a/gym/WI/bildungsplan_a_gym_WI.pdf
[5] http://www.bildungsplaene-bw.de/site/bildungsplan/get/documents/lsbw/export-pdf/a/gym/WBS/bildungsplan_a_gym_WBS.pdf
[6] Gaulhofer, Karl: Schulfach Wirtschaft? Neoliberale Attacke! In: Die Presse vom 17.11.2015. http://diepresse.com/home/wirtschaft/international/4868556/Schulfach-Wirtschaft-Neoliberale-Attacke?xtor=CS1-15
[7] Curriculare Skizze zur APO-BK zur Anlage C5 – Wirtschaft und Verwaltung.
http://www.berufsbildung.schulministerium.nrw.de/cms/upload/_lehrplaene/c/wirtschaft-verwaltung_curskizze.pdf
[8] Ein Versuch, Nachhaltigkeit konsequent durch den ökonomischen Erkenntnisgegenstand mitzudenken stellt die Themensammlung Wirtschaftskompetenz dar, deren neue Fassung von 2015 soeben von BiWiNa e.V. veröffentlicht wurde. Dabei handelt es sich um eine Sammlung von Fragestellungen zur Integration von Nachhaltigkeitsperspektive und ökonomischer Theorie.
http://www.biwina.de/Themensammlung/