September 2015
Krise ist immer. Oder können Sie sich ein eine Zeit der medialen Berichterstattung erinnern, in der uns gerade keine Wirtschaftskrise Zukunftsängste einredete?
Eines ist wirklich sicher: Die „Wirtschaftskrise“ wird bleiben. Und weite Teile der Öffentlichkeit werden es auch weiter für bare Münze nehmen. Denn der Maßstab, nach dem „Wirtschaftswunder“ oder „Konjunktureinbrüche“ bemessen werden, wird den Erwartungen der Mainstream-Ökonomie, der Börsianer und Wachstumspolitiker/innen nie mehr entsprechen: Das Bruttoinlandsprodukt wird uns auch weiterhin enttäuschen.(1) Zumindest, wenn wir auf Taschenspielertricks und Raubbau an Mensch und Natur verzichten. Aber selbst diese werden nicht verhindern, dass Wachstumsraten und das Zinsniveau auf Dauer rückläufig sein werden. Und wenn auch Wirtschaftsjournalisten das Spiel mitspielen, ist immer Konjunktur für die „Wirtschaftskrise“.
Neuester Patient: China. In Peking spielt die Börse verrückt, Banken durchforsten in Panik ihre Wertpapiere nach neuen „Bad assets“ und der deutschen Exportwirtschaft ist angst und bange vor schlechten Nachrichten vom „Kranken Mann am Jangtsekiang“. Was ist passiert? Die neuesten Konjunkturdaten Chinas zeigen, dass das Wirtschaftswachstum nur noch 6,5% beträgt. Nach Steigerungsraten teilweise im zweistelligen Bereich vor einigen Jahren wird der Sekt nun nur noch selten ausgeschenkt. 6,5% Mehr? Etwa kein Grund zur Party?
Die Widersinnigkeit dieser ökonomischen Diskussion und der darauf aufbauenden Hysterie lässt sich sehr schön am Beispiel eines beliebten Sportwagens erklären.
Ein Maserati beschleunigt von 0 auf 100 km/h in rund 5 Sekunden. Dabei überwindet er zunächst die Trägheit und gewinnt auf den ersten Metern immer mehr an Geschwindigkeit. Nach 2 Sekunden fährt er bereits 50 km/h. Aber selbst ein Maserati erreicht irgendwann seine Spitzengeschwindigkeit: Mehr als 300 km/h gibt auch die ausgeklügeltste Technik nicht her. Ist der Tank voll und die Straße frei, kann er das Tempo vielleicht ein, zwei Stunden durchhalten.
Jetzt stellen wir einmal eine ungewöhnliche Berechnung an. Für den Maserati. Denn im Bereich der Konjunkturdebatten ist diese Betrachtung ja alltäglich: Das Wirtschaftswachstum berechnet sich schließlich als Zunahme der Produktion... im Vergleich zum Vorjahr.
Berechnen wir also die prozentuale Steigerung der Geschwindigkeit von Sekunde zu Sekunde. In den ersten 8 Sekunden gewinnt unser Sportwagen sekundenweise tatsächlich an Geschwindigkeit (und nach jedem Schaltvorgang lässt sich dieser Effekt kurzzeitig wiederholen). Doch ermittelt man die zusätzliche Geschwindigkeit der letzten Sekunde im Vergleich zur vorherigen, wird man feststellen: Die prozentuale Zunahme der Geschwindigkeit nimmt ab: Verdoppelte sich z.B. die Geschwindigkeit von der ersten Sekunde (25km/h) in der zweiten Sekunde auf 50km/h (Steigerung: 100%), so schafft auch der schnellste Maserati in der dritten Sekunde nur noch 20km/h mehr, eine Steigerung um gerade mal 40% (70km/h gegenüber 50km/h in der Sekunde davor). Selbst wenn die Beschleunigung den Wagen in der vierten Sekunde noch einmal um weitere 20 Stundenkilometer auf 90km/h bringen würde, entspräche dies nur noch einer Steigerung um etwa 29% (von 70 auf 90km/h). Die Zuwachsraten nehmen auch bei fortschrittlichster Technik kontinuierlich ab.
Warum erstarren wir vor Angst, wenn die Wachstumsraten im Jahresvergleich abnehmen? Weder in der Welt der Technik noch in der realen Welt der Güterproduktion sind exponentielle Wachstumspfade denkbar, die ein gleichbleibendes prozentuales Wachstum hervorbringen. Betrachtet man die absoluten Zuwächse der chinesischen Wirtschaft, so lässt sich seit 2005 eine jährliche Zunahme um durchschnittlich fast 1000 Milliarden US-Dollar feststellen.(2)
Doch alle Welt starrt nur wie gebannt auf die Wachstumsraten. Und die nehmen unweigerlich ab. Und nicht nur an der Pekinger Börse zieht Panik auf, weil die Wachstumsraten aus den 2000er Jahren nicht mehr erreichbar sind(3):
Chinas Wirtschaftswachstum verlangsamt sich? Wird der Maserati langsamer, weil eine Verdopplung der Geschwindigkeit von 100km/h auf 200km/h in der 6. Sekunde unmöglich ist?
Man fragt sich, ob nur die auf prozentuale Renditen fixierten Börsianer und Konjunkturforscher im Matheunterricht geschlafen haben – oder ob System dahinter steckt, wenn in schöner Regelmäßigkeit das Gespenst der konjunkturellen „Rezession“ an die Wand gemalt wird, nur weil „das Wachstum“ mathematisch geringer ausfällt. Denn sind die Medien erst mal aufgeschreckt und voller Sorge um „Die Wirtschaft“, lassen sich Arbeitsplatz- und Sozialabbau ohne größeres Murren der politischen Öffentlichkeit durchsetzen. Und wenn China demnächst wieder aus den Schlagzeilen heraus ist, werden die Untergangspropheten nicht lange brauchen, den nächsten Krisenherd zu finden. Für alle Fälle bleibt ihnen da ja sowieso auf lange Sicht Griechenland...
Fehlt der Durchblick in die Tricksereien mittels Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung, wird den gutgläubigen Wirtschaftsbürger/innen schnell ein X-prozentiges Wachstum für einen absolutes U-nglück vorgemacht. Wie begründete noch der hessische Ministerpräsident Roland Koch 2003 die Verlängerung der Wochenarbeitszeit, die Streichung des Urlaubsgeldes und die Kürzung des Weihnachtsgeldes für Landesbedienstete? „Ein Land, in dem es seit 3 Jahren kein Wirtschaftswachstum mehr gibt, wird ärmer. [...] Die Gesetze der Mathematik können wir nicht ändern.“(4)
2 + 0 = 1? Diese Logik versteht nicht jeder.
Doch deutet die von Roland Koch vorgeschlagene Rezeptur an, woran Gesellschaften sich gewöhnen sollen, damit Konzernrenditen und Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts auch künftig florieren: Verlängerung von Wochen- und Lebensarbeitszeit, Kommerzialisierung der privaten Lebenswelt, Bekriegung anderer Volkswirtschaften auf dem Wege der Exportsteigerung, Billigproduktion aus Fernost, Ausbeutung von Ressourcen und Naturdienstleistungen. (Ein weiteres Rezept, das der Staatsverschuldung, ist soeben in Misskredit geraten - über die Sinnhaftigkeit dieses Urteils wird unter den Expert/innen allerdings gerade gestritten...)
Wie es mit dem Wirtschaftswachstum weitergeht, wenn natürliche Ressourcen, der Klimawandel oder soziale Verwerfungen keine weitere Beschleunigung der Ausbeutung von Mensch und Natur mehr zulassen, wollen wir an dieser Stelle gar nicht diskutieren. Und auch die Frage, ob Wirtschaftswachstum ohne Steigerung des Ressourcenverbrauchs denkbar ist, ist weiter ungelöst: Die Grenzen des Wachstums sind jedenfalls ein Feld, das zu echter Sorge Anlass geben sollte. (Oder sollten wir statt Wachstum „Produktionsbeschleunigung“ sagen? Denn die absolute Höhe der Wertschöpfung, gemessen am BIP in Euro, entspricht der Geschwindigkeit eines Maserati, die unter normalen Umständen irgendwann konstant bleiben dürfte. „Wirtschaftswachstum“ ist letztlich eine Beschleunigung der Produktion.)
Nur noch eine These am Ende: Wenn das Wirtschaftswachstum künftig keine großen Sprünge mehr macht, müssen wir uns womöglich auch weitläufig auf eine – prozentual gesehen – sinkende Verzinsung von Kapitalanlagen einrichten? (Erstaunlich häufig betonen einflussreiche Politiker/innen und Bankvertreter ja ihr Herz für den „deutschen Sparer“, der der Verlierer ausbleibender Kapitalverzinsung sei.) Die immer wieder geäußerte Erwartung, dass das Zinsniveau in Bälde wieder steigen würde, könnte sich als ein weiterer Irrglaube erweisen – und dann Teil einer selbst erfüllenden Prophezeiung werden, die Wirtschaftskrisen auf Grund unrealistischer Erwartungen der Akteure erst zum Ausbruch bringt.
Oder aber die Öffentlichkeit lässt sich wieder einmal auf Arbeitszeitverlängerungen und Lohnkürzungen ein. Der Sparer in uns wird es uns danken.
(1) In der Wissenschaft ist diese mathematisch begründete Wachstumskritik erstaunlicherweise nicht sehr weit verbreitet. Sie findet sich bei Glötzl, Erhard: Arbeitslosigkeit - Über die kapitalismusbedingte Arbeitslosigkeit in alternden Volkswirtschaften und warum Keynes recht hatte und doch irrte. Erweiterte Fassung eines Vortrages vom 11. Oktober 1997 im Rahmen eines Projektes des Institut für Internationales Management der Universität Graz. http://userpage.fu-berlin.de/~roehrigw/gloetzl/keynes.htm
sowie Anschau, Torben et al.: Normalfall Wachstum? Warum die Wachstumsraten sinken. In: Deutscher Studienpreis (Hrsg.): Ausweg Wachstum? Arbeit, Technik und Nachhaltigkeit in einer begrenzten Welt. VS, Wiesbaden 2007
(2) http://de.statista.com/graphic/1/19365/bruttoinlandsprodukt-in-china.jpg
(3) Kaiser, Tobias: „Die deutsche Angst vor der Weltrezession made in China.“ In: Die WELT vom 17.7.2015. www.welt.de/wirtschaft/article144102600/Die-deutsche-Angst-vor-der-Weltrezession-made-in-China.html
(4) http://labournet.de/branchen/dienstleistung/oed/koch.pdf