Nachhaltige Entwicklung im volkswirtschaftlichen Unterricht
Nachhaltige Entwicklungim volkswirtschaftlichen Unterricht

Der Arbeitsmarkt: Arbeitslosigkeit, Mindestlöhne und Arbeitsmarktstatistiken

Arten der Arbeitslosigkeit

 

Unterrichtseinheiten zu den Arten der Arbeitslosigkeit sind Standard in den meisten volkswirtschaftlichen Lehrbüchern. Unterschiede gibt es mitunter in der Definition und Einordnung der „Strukturellen Arbeitslosigkeit“, der manchmal mit der „Sektoralen Arbeitslosigkeit“ gleichgesetzt wird. In dieser Darstellung wurde „Strukturelle Arbeitslosigkeit“ als Oberbegriff gewählt, da die Wirtschaftsstruktur durch historische, technologische gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen entsteht.

 

Der Nachhaltigkeitsaspekt, der dieses Unterrichtsmaterial von sonstigen Sachtexten zur Thematik unterscheidet, liegt insbesondere in der Einbeziehung der institutionellen Arbeitslosigkeit durch das Steuer- und Abgabensystem. Diese Ursache für langfristige Ungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt findet auch in herkömmlichen VWL-Lehrbüchern praktisch nie Berücksichtigung, obwohl in zahlreichen wissenschaftlichen Studien oder auch in den medialen Debatten der Einfluss der Lohn- bzw. Lohnnebenkosten auf die Einstellungspraxis von Unternehmen immer wieder betont wird.

Friktionale Arbeitslosigkeit: Man spricht auch von der „natürlichen Arbeitslosigkeit, bedingt durch einen (freiwilligen) Arbeitsplatzwechsel. Wenn eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer eine neue Arbeitsstelle gesucht und gefunden hat, kann es passieren, dass die Arbeitsverträge zeitlich nicht passen und man sich vorübergehend arbeitslos meldet. Friktionale Arbeitslosigkeit ist grundsätzlich kurzfristig, dauert ca. 1-4 Monate und tritt auch in Zeiten der Vollbeschäftigung auf, so dass von einer „natürlich Arbeitslosenquote“ von 0,5-1,5% ausgegangen wird.

 

Saisonale Arbeitslosigkeit: Bedingt durch wechselnde Witterungsbedigungen gibt es vor allem in der Landwirtschaft, im Baugewerbe oder Tourismus jahreszeitliche Schwankungen der Beschäftigung. Eine Wiederanstellung ist dabei absehbar.

 

Konkunkturelle Arbeitslosigkeit: Empirisch kommt es alle paar Jahre zu mittelfristig schankenden Auftragslagen der Unternehmen, worauf diese – zumeist mit Verzögerung – mit Entlassungen oder Einstellungen reagieren. Eine Wiedereinstellung ist erst nach mehreren Monaten oder ein bis zwei Jahren zu erwarten, wenn die Auftragslage sich nachhaltig verbessert hat.

 

Strukturelle Arbeitslosigkeit : Bei der strukturellen Arbeitslosigkeit handelt es sich um langfristige Arbeitslosigkeit, bei der man verschiedene Ursachen unterscheidet.

 

  1. Mismatch-Arbeitslosigkeit / Sektorale Arbeitslosigkeit: Durch veränderte Technologien oder wirtschaftspolitische Entwicklungen (z.B. Globalisierung) werden bestimmte Branchen überflüssig, so dass auch ausgebildete Fachkräfte mit ihren Qualifikationen überflüssig werden können. Ihre Wiedereinstellung ist kaum noch möglich und sie sehen sich gezwungen, sich fortzubilden oder ganz auf einen neuen Beruf umzuschulen. Bis die persönliche Weiterqualifizierung abgeschlossen ist, sind sie dann ggf. auf Arbeitslosgengeld angewiesen (wobei Teilnehmer an registrierten Umschulungen in der offiziellen Arbeitsmarktstatistik der Bundesagentur für Arbeit nicht mitgezählt werden).
  2. Regionale Arbeitslosigkeit: Gerade ländliche Räume, aber auch städtische Regionen wie das Ruhrgebiet, sind bzw. waren über lange Zeiten einseitig durch bestimmte Branchen und Industrien geprägt. Wenn durch technischen Fortschritt, Ressourcenknappheiten, klimatische oder auch wirtschaftspolitische Veränderungen die jeweilige Unternehmenstätigkeit dort nicht mehr lukrativ ist oder nicht mehr möglich ist, folgen Massenentlassungen. Der Aufbau einer neuen Wirtschaftsstruktur dauert in der Regel viele Jahre bis Jahrzehnte, so dass langfristige Phasen der Arbeitslosigkeit unvermeidlich sind. Betroffene Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können individuell nur durch Abwanderung in wirtschaftlich stärkere Regionen reagieren.
  3. Institutionelle Arbeitslosigkeit: Die tarifvertragliche oder staatliche Organisation des Arbeitsmarktes kann ihrerseits zur Verfestigung der Arbeitslosigkeit führen. So können unter Bedingungen des Freihandels Unternehmen versuchen, Regelungen des Arbeitsschutzes oder des Kündigungsschutzes zu umgehen, indem sie Vorprodukte aus anderen Ländern importieren. Mitunter werden sogar dauerhafte Standortverlagerungen anvisiert. Gleiches kann zutreffen, wenn tarifvertragliche Lohnabschlüsse zu hoch ausfallen. Schließlich führt auch ein Steuer- und Abgabensystem, das soziale Leistungen vor allem dem Produktionsfaktor Arbeit aufbürdet, dazu, dass die Lohnnebenkosten für den Unternehmer immer weiter steigen. Das kann mittelfristig dazu führen, dass Unternehmen Arbeitsplätze aus Kostengründen ins Ausland verlagern. Steuerliche Bevorteilung von maschineller Produktion und entsprechende Benachteiligung von Lohnarbeit fördert zudem die Rationalisierung, so dass Arbeitsplätze abgebaut werden. Außerdem werden Tätigkeiten auf diese Weise verstärkt in die Schwarzarbeit abgedrängt, in der Tätigkeiten illegal ohne Steuer- und Sozialabgaben durchgeführt werden. (Mehr dazu im Kapitel Nachhaltige Wirtschaftspolitik.)

Arten der Arbeitslosigkeit

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“Die Reichen arbeiten nicht genug, weil sie unterbezahlt, die Armen arbeiten nicht genug, weil sie überbezahlt sind."(1)

John Kenneth Galbraith

 
Die Widersinnigkeit der gängigen ökonomischen Diskussion im Bereich des Arbeitsmarktes brachte der kanado-amerikanische Ökonom John Kenneth Galbraith mit diesem sarkastischen Zitat trefflich zum Ausdruck. Und obwohl die Hochzeit neoliberal-monetaristischer Wirtschaftstheorie mit den “Reaganomics” und dem “Thatcherism” im angelsächsischen Bereich in den 80er Jahren lag, so traten die Politikstrategien, die die Ironie des obigen Zitats vermutlich überhaupt nicht wahrnehmen, verstärkt ab den 90er Jahren in Deutschland zu Tage – und weder Dot.com-Crash noch Weltwirtschaftskrise scheinen grundsätzlich die Überlegenheit von Marktlösungen gegenüber staatlichen Eingriffen in Zweifel zu ziehen. Ein hervorragendes Beispiel hierfür liefert die Diskussion um Mindestlöhne.

(Die folgenden Ausführungen orientieren sich eng an dem Kapitel zum Arbeitsmarkt in Steve Keens wissenschaftskritischer Publikation “Debunking Economics”, die auf der Unterseite “Fundamentalkritik der Neoklassik” besprochen wird. Da der Arbeitsmarkt von seiner wirtschafts- und sozialpolitischen Bedeutung herausragt, wird dem Thema hier eine eigene Seite gewidmet.)

Jedem was ihm gebührt - Zur Frage der Mindestlöhne

Mindestlöhne werden von der herrschenden ökonomischen Lehre als wohlfahrtsmindernde Eingriffe des Staates in funktionierende Märkte abgelehnt. Obwohl bereits 20 von 27 EU-Staaten über gesetzliche Mindestlöhne verfügten(2), wurde die Debatte in Deutschland jahrelang mit einem Totschlagargument abgekürzt: Es drohe “Mindestlohnarbeitslosigkeit”, da den Unternehmen unwirtschaftliche Lohnkosten entstünden.
 
Das Argument wird mikroökonomisch so begründet:

Bei Setzung eines Mindestlohns Wm über dem Marktlohn (Schnittpunkt Angebot u. Nachfrage) entsteht in der vorliegenden Grafik tatsächlich eines Mindestlohnarbeitslosigkeit in der Differenz Ls–Ld. Die Lohnhöhe der Beschäftigten wird tatsächlich auf Kosten der Arbeitssuchenden geschützt. Mindestlöhne erscheinen tatsächlich “unsozial”(3) und besitzstandswahrend, weil die Besitzer von Arbeitsplätzen ihr Einkommen gegen die berechtigten Hoffnungen der Beschäftigungssuchenden zu sichern suchen.

 

Nun fußt das Argument der Mindestlohnarbeitslosigkeit in erster Linie auf der – unkritischen – Anwendung des Standardmodells zu Angebot und Nachfrage auch auf dem Arbeitsmarkt: Die stetig wachsende Angebotskurve und stetig fallende Nachfragekurve sind das universelle Marktmodell, das sich auch für den Arbeitsmarkt in jedem volkswirtschaftlichen Lehrbuch findet – das jedoch nach den Analysen heterodoxer Ökonomen wie Piero Sraffa schon auf den Gütermärkten nur unter äußerst unrealistischen Annahmen durchhalten lässt (hierzu mehr auf der Seite “Fundamentalkritik der Neoklassik”).

 

Die steigende Angebotskurve (Angebot von Arbeitsstunden von den Arbeitssuchenden) wird mikroökonomisch wie folgt hergeleitet:

Arbeitsangebot - konventionell.

Die rationale Arbeitsanbieterin (im sonstigen Sprachgebrauch “Arbeitnehmer”) entscheidet sich zwischen mit dem Einkommen W (Lohn bei 24 Stunden Arbeit) entlohnter Erwerbsarbeit und ihrer Freizeit h (linke Grafik). Arbeitet sie null Stunden, springt auch kein Einkommen heraus (alle Budgetlinien enden im Punkt 24h auf der horizontalen Achse). Arbeitet sie 24 Stunden am Stück, verdient sie den maximalen Tageslohn W – dieser hängt jedoch von der Höhe des Lohn in der betreffenden Branche ab (W¹, W² oder W³ auf der vertikalen Achse). Wie üblich in der mikroökonomischen Analyse entscheiden Indifferenzkurven über das gewählte Güterbündel (hier: Erwerbseinkommen und Freizeit). Dabei verlaufen die Indifferenzkurven per definitionem schnittpunktfrei und erreichen, je weiter vom Ursprung entfernt, ein höheres Nutzenniveau. Somit wählt die rationale Arbeitsanbieterin (d.h. Arbeitnehmer) jene Erwerbseinkommen-Freizeit-Kombination, die von seiner persönlichen Indifferenzkurve gerade noch tangiert wird: In den vorliegenden Fällen h¹ (bei Lohnhöhe W¹), h² (bei Lohnhöhe W²) und h³ (bei Lohnhöhe W³).

h¹, h² und h³ sind die Freizeiten. Die entsprechende Arbeitszeit beträgt dann 24-h¹, 24-h² und 24-h3. Trägt man diese auf die Horizontale der rechten Grafik auf und die dazugehörige Lohnklasse W¹, W² und W³ auf der Vertikalen, so erhält man für die betreffende Arbeitsanbieterin die Arbeitsangebotskurve.

Durch Aggregation aller Arbeitsanbieter entsteht dann die Gesamtangebotskurve aller Arbeitsanbieter, die – wie die individuelle Kurve im vorliegenden Fall – “natürlich” steigend ist: Durch höhere Löhne wird der Homo Oeconomicus angereizt besonders viel zu arbeiten.

 

Die gerade unternommene mikroökonomische Herleitung ist wiegesagt Grundlage für das Argument der Mindestlohnarbeitslosigkeit. Eine staatliche Setzung eines Mindestlohns über den Marktlohn verbietet sich so.

 

Ist das so? Ich meine, muss das so?

 

Ist das so, dass hohe Löhne zur Mehrarbeit anregen... und im Umkehrschluss niedrige Löhne den Arbeitsanbieter dazu verleiten, weniger zu arbeiten und mehr Freizeit zu genießen? Genau dies wird in dem herrschenden Modell unterstellt – als ob Beschäftigungssuchende unendliche andere Mittel zur Bedürfnisbefriedigung zur Verfügung stünden und sich die Freizeit vor allem ohne Ausgaben für Freizeitaktivitäten anfüllen ließe?

Spätestens hier sollte man misstrauisch werden. Der real existierende Mensch hat nämlich gar nicht die postulierte freie Wahl zwischen Erwerbsarbeit und Freizeit. Denn Gott verdammte Adam: "Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen” (Genesis, 3,19).

Arbeitsangebot - realistisch.

Betrachten wir noch einmal die mikroökonomische Herleitung – diesmal allerdings mit etwas unterschiedlich gezeichneten, etwas “eckigeren” Indifferenzkurven. Und wieder muss sich der Arbeitsanbieter entscheiden zwischen einem Einkommensniveau W und der Freizeit h. Und wieder wird er das tun in Abwägung der beiden Nützlichkeiten repräsentiert durch die Indifferenzkurven, deren Tangentialpunkt mit der Budgetlinie das gewählte Einkommens-Freizeit-Bündel bestimmt. Und wieder übertragen wir die Arbeitszeit 24-h auf die Horizontale der rechten Grafik und das Lohnniveau W auf die Vertikale... und siehe da: die individuelle (und somit nach Aggregation auch die gesamte) Arbeitsangebotskurve ist auf einmal fallend! Nur weil grafisch anders gezeichnete Indifferenzkurven verwendet wurden.

 

Dies hat umfassende Wirkung auf den Gesamtarbeitsmarkt:

Sowohl Arbeitsangebotskurve als auch Arbeitsnachfragekurve (der Unternehmen) verlaufen fallend. Vieles ist nun abhängig von der Steilheit der Kurven. Es ist durchaus möglich, dass die Angebotskurve flacher als die Nachfragekurve verläuft. Dies hat zur Folge, dass ein vermeintliches Gleichgewicht im Schnittpunkt der Kurven nicht stabil ist. Die Anbieter (Beschäftigungssuchenden) konkurrieren sich weiter mit den Löhnen herunter – und arbeiten sogar noch länger trotz niedrigerer Löhne und “nehmen” sogar noch den anderen Arbeitsanbietern Stellen “weg”, weil sie womöglich von Stelle zu Stelle hecheln (und wer sich seinen Lebensunterhalt so sauer verdienen muss, ist am Ende auch bereit 10, 12 oder mehr Stunden zu arbeiten – aber das hatten wir ja alles schon im 19. Jahrhundert...). Hier kann ein Mindestlohn Wm tatsächlich Einhalt gebieten, weil nur so die Lohnkonkurrenz nach unten unterbunden wird (ganz zu schweigen von sozialen und psychologischen Vorteilen, die die größere Sicherheit des Einkommens garantieren).

 

Die realistische Angebotskurve

 

Eine realistischere Arbeitsangebotskurve sieht vermutlich wie folgt aus:

Arbeitsangebotskurve - empirisch.

Im obersten Lohnbereich (grün eingefärbt) dürfte die Bereitschaft zur Mehrarbeit sehr gering sein. Auch wenn – platt gesprochen – die Ackermänner dieser Welt noch ein paar Millionen mehr dazu bekommen, werden sie nicht noch weitere Stunden ackern und ihre sowieso schon knapp bemessene Freizeit aufgeben - es wird eher Arbeitszeit durch Freizeit substituiert. Im mittleren Bereich (goldgelb) greifen wahrscheinlich tatsächlich die Verheißungen des Mehrverdienstes im Sinne von größeren Luxus, größerer Sicherheit und sozialem Prestige und Machtfülle, so dass hier die Beschäftigten am ehesten bereit sind, auf Freizeit zu verzichten um einen Mehrverdienst zu erreichen. Im unteren mittleren Bereich (orange) dürften die Arbeitsanbieter bereit sein, zu quasi jedem Lohn zu arbeiten – eine Inanspruchnahmen weiterer Freizeit können sie sich gar nicht leisten, die Arbeitsangebotskurve verläuft wieder stark preisunelastisch (d.h. de-facto vertikal). Sinkt das Lohnniveau unter ein Existenzminimum (roter Bereich), dann sind die Arbeitsanbieter auch noch gezwungen ihre letzten Reserven an Freizeit zu mobilisieren – die Arbeitsangebotskurve verläuft wieder flacher.

 

Tatsächlich hat sich seit der Liberalisierung des deutschen Arbeitsmarktes die Zahl der Erwerbstätigen mehr als verdoppelt, die einen Zweitjob benötigen.

Die kritiklose Übernahme von Standardmodellen führt zu falschen Schlussfolgerungen. Der Arbeitsmarkt ist ein besonders gutes Beispiel, wie ökonomische Theorie in tagesaktuelle Debatten hineinspielt und womöglich falsche Politiken verursacht.(4) Die Wirklichkeit ist leider nicht so einfach, wie in der Neoklassik dargestellt.

Boris Becker macht mal halblang: Die "wahre" Angebotskurve

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Soziale Dimension:

In der ökonomischen Theorie, insbesondere der Neoklassik, wird der Arbeitsmarkt genauso behandelt wie jeder andere Teilmarkt in der Volkswirtschaft: Wie bei einer x-beliebigen Ware werden Angebot und Nachfrage durch Konkurrenz zum Ausgleich gebracht. Sofern sich der Gleichgewichtslohn als Schnittpunkt der jeweiligen Kurven ergibt, wird von einem effizienten und wohlfahrtsmaximierenden Markt ausgegangen.

Doch stellt der Arbeitsmarkt natürlich einen ganz besonderen Markt dar. Denn während das Nicht-Zum-Zuge-Kommen auf einem Gütermarkt (sagen wir, Markt für saure Gurken) bestenfalls ein saures Lächeln zur Folge hat (der jeweilige Nachfrager hat den persönlichen Wert für saure Gurken eben nicht hoch genug für den gängigen Marktpreis angesetzt), so können sich die meisten Menschen ein Nicht-Zum-Zuge-Kommen am Arbeitsmarkt gar nicht leisten – anderweitige Einkommensquellen stellen eben nur noch Immobilien oder Kapitalanlagen dar. Doch da 50% der Deutschen de-facto kein einkommenswirksames Vermögen besitzen(5), fällt diese Möglichkeit für die Mehrzahl der Haushalte aus.

 

Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob auch im Rahmen des Ökonomie-Unterrichts Arbeit wirklich als bloßer Produktionsfaktor oder – neudeutsch – “Humankapital” betrachtet werden kann (Humankapital wurde 2004 von der Gesellschaft für Deutsche Sprache zum Unwort des Jahres gewählt). Auch wenn die Bedeutung der Arbeit gegenüber dem Mittelalter und beginnender Neuzeit von religiösen Auserwähltheitsgedanken befreit worden ist, so werden von der Sozialpsychologie umfassende Funktionen mit der Einbindung in die Arbeitswelt genannt:

  • Prägung von Persönlichkeitsmerkmalen
  • Identitätsbildung
  • Zeitstrukturierung
  • Bildung von Handlungskompetenzen
  • Bildung von Kontakt- und Interaktionsfeld und damit sozialintegrative Wirkung
  • Statuszuweisung und soziale Anerkennung(6)

Arbeit ist mehr als nur Mittel zur Existenzsicherung. Wenn der Wirtschaftsunterricht der Arbeit nicht den gebührlichen Wert zukommen lässt, trägt er zur Entmenschlichung der Gesellschaft und der Arbeitswelt bei.

 

Ökologische Dimension:

 

Nachhaltige Entwicklung betont die gegenseitige Abhängigkeit ökonomischer, sozialer und ökologischer Bedingungen und Zielsetzungen. In dem Maße, in dem soziale Probleme ungelöst bleiben, werden auch ökologische Ziele auf der Strecke bleiben. Es ist sicher kein Zufall, dass die Diskussion um Ökologie und Naturschutz seit den 90er Jahren eher auf dem absteigenden Ast ist – seit dieser Zeit haben die sozialen Probleme insbesondere auf dem Arbeitsmarkt zugenommen. Die Sorge um die eigene materielle Absicherung ist in der gesellschaftlichen Mitte angekommen – und bei der Jugend. Und somit fehlt der Rückhalt in der Bevölkerung, ökologische Themen anzupacken, die ja meist eher langfristig bedeutsam werden.

 

Auch umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Lösung ökologischer Fragestellungen hat zumeist auch positive Rückwirkungen auf die sozialen und ökonomischen Verhältnisse. Doch um diese Botschaft zu erläutern, würde man mehr Nachhaltigkeit in den Medien und im Bildungssystem benötigen.

 

Mythen der Arbeit

 

Wirtschaftsunterricht findet nicht im luftleeren Raum statt. In der Regel sind die jungen Lernenden 16 Jahre oder älter, wenn sie zum ersten Mal Wirtschaftslehre in ihren Stundenplan eintragen. Und jede Lehrkraft ist froh über Schüler, die bereits Vorwissen zum Thema einbringen können.

Im Sinne der Nachhaltigen Entwicklung muss man jedoch damit rechnen, dass jenes Vorwissen primär durch die Medien vermittelt wurde – und damit eher neoliberal-marktgläubigen Grundlagen entspringt. Kaum ein Schüler würde von Hause aus die Ambivalenz des Wirtschaftswachstums wahrnehmen. Und auch im Bereich des Arbeitsmarkts sind so viele Mythen im Umlauf, dass der kritische Wirtschaftskunde-Unterricht bereits bei jungen Menschen eingefahrene Denkweisen überwinden muss.

 

Um etwa die zunehmende soziale Schieflage wahrzunehmen, bedarf es einer statistischen Betrachtung der Lohnquote, dem Anteil der Einkommen am Volkseinkommen aus abhängiger Beschäftigung (ausführliche Diskussion der Lohnquote im Kapitel Produktivität). Für die meisten Schüler, die aus Arbeitnehmerhaushalten stammen, kommt es einer revolutionären Erkenntnis gleich, dass es noch weitere Einkommensarten gibt, etwa solche aus Unternehmertätigkeit und Vermögen an Finanzanlagen oder Grund und Boden, der Komplementärgröße zum Arbeitnehmereinkommen. Vielleicht liegt es auch am Fortwirken der protestantischen Arbeitsethik oder des katholischen Zinsverbots aus früheren Jahrhunderten, dass gerade in Deutschland die Idee vorherrscht, Häusle seien nur durch “Schaffe, schaffe” zu bauen. Doch die soziale Kluft zwischen Arm und Reich geht ja nicht nur auf das Auseinanderdriften von Arbeitnehmereinkommen zurück, sondern vor allem auf eine immer größere Bedeutung der Finanz- und Vermögenseinkommen.

 

Wichtig wäre, die Lernenden über die Manipulierbarkeit öffentlicher Arbeitsmarktdaten aufzuklären. Dabei sind Arbeitslosenstatistiken neben Neuigkeiten zur Konjunktur die Meldungen, die am meisten Medienecho auslösen. Sogar der Mainstreamjournalismus hat die Zweifelhaftigkeit offizieller Statistiken erkannt und weist in politischen Kommentaren immer wieder darauf hin. Dass Lehrpläne und Lehrbücher noch so oft darüber hinweg gehen, ist fast nicht zu entschuldigen.

 

In den offiziellen Arbeitsmarktzahlen nicht enthaltene, aber de-facto als arbeitslos zu wertende Menschen(7):

 

  • Arbeitslose, die eine staatliche Weiterbildungsmaßnahme durchlaufen
  • Arbeitslose, die einer 1-Euro-Beschäftigung nachgehen (2008: ca. 300000)
  • Ältere Arbeitnehmer, die vor dem offiziellen Renteneintrittsalter in einen Vorruhestand gehen (2008: ca. 500000)
  • Arbeitslosengeld-II-Bezieher über 58 Jahre, die mindestens ein Jahr lang keine Stelle angeboten bekommen haben, fallen automatisch aus der Statistik
  • Von privaten Vermittlungsagenturen betreute Arbeitssuchende (2008: ca. 200000)
  • Die sogenannte “stille Reserve”, Entmutigte, die es aufgegeben haben, sich arbeitslos zu melden (2008: ca. 700000)
  • Arbeitnehmer in Kurzarbeit
  • Selbstständige, die sich nur mit finanzieller Unterstützung der Bundesagentur der Arbeit über Wasser halten

 

Danach musste man z.B. im Januar 2008 anstatt der offiziell von der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten 3,4 Mio (8,1%) mindestens von 5,5 Mio (12,8%) Arbeitslose ausgehen.

 

Viele Lehrpläne und Lehrbücher beschränken sich auf die Unterscheidung in friktionale Arbeitslosigkeit (Zeit zwischen zwei Jobs bei freiwilligem Stellenwechsel), jahreszeitlich-bedingte, konjunkturelle und strukturelle Arbeitslosigkeit. Da in den Medien in aller Regel recht einseitig allein ein Zusammenhang zwischen Konjunktur und Arbeitslosigkeit hergestellt wird, sollte den – über die Jahrzehnte – wesentlich bedeutsameren strukturellen Gründen mehr Beachtung geschenkt werden als in den meisten Lehrwerken üblich. Manche Lehrbücher thematisieren immerhin den Konflikt durch zunehmende Technisierung und Rationalisierung oder die Auswirkungen der Globalisierung. Seltener ist ein Verweis auf mangelnde Qualifizierung der Arbeitnehmer durch das Bildungssystem bzw. Fortbildungsangebote. Vollkommene Fehlanzeige bezüglich struktureller Gründe herrscht indes bei politisch verursachten Strukturfehlern, vor allem der im internationalen Vergleich in Deutschland immer noch exorbitant hohen Belastung des Faktors Arbeit durch Steuern und Abgaben. Den meisten Lehrbuchautoren scheint das Wort “Ökosteuer” bzw. “Energiesteuer” hochpeinlich zu sein. Eine Auseinandersetzung mit einer ökologischen Steuerreform gerade auch in Hinblick auf den Arbeitsmarkt findet nie statt. Auch eine Diskussion sogenannter “prekärer” Beschäftigung oder den zweifelhaften Segnungen des Zeitarbeitbooms ist in den Lehrbüchern (noch?) nicht angekommen.(8)

Quelle: Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft.

Anstelle der deprimierenden Arbeitslosenstatistik bekommt man in den Medien immer öfter “Erfolgsmeldungen” über gestiegene Zahlen von Erwerbstätigen zu hören. Und in der Tat sind immer mehr Bundesbürger erwerbstätig, seit der Wiedervereinigung stieg die Zahl bundesweit von ca. 38 Mio auf über 40 Mio(9).

Doch liegt das an den Erfolgen der Arbeitsmarktpolitik oder könnte es auch damit zusammenhängen, dass immer mehr Familien einen Zweit- oder Drittverdiener benötigen? In diesen Kontext passt ein Blick auf Statistiken zum Arbeitsvolumen(10).

Man erkennt, dass die volkswirtschaftlich geleisteten Erwerbsarbeitsstunden seit 1960 um rund 20% zurückgegangen sind (auch im vereinigten Gesamtdeutschland seit 1991 sank das Arbeitsvolumen um 3-5%). D.h. immer mehr Arbeitnehmer teilen sich immer weniger zu leistende gesellschaftliche Arbeitszeit. Daraus ließen sich spannende Klassendiskussionen oder Rollenspiele entwickeln, doch bietet allein das Lehrbuch “Betrifft Volkswirtschaft” von Volker Weitz und Mitautoren eine solchermaßen erhellende Grafik.

 

Im vereinigten Gesamtdeutschland seit 1991 sank das Arbeitsvolumen nur noch um ca. 2% - bei gleichzeitiger Zunahme der Erwerbstätigen um 10%. (11)

(1) Das Originalzitat lautete: “We can safely abandon the doctrine of the eighties, namely that the rich were not working because they had too little money, the poor because they had much.” The Guardian, UK, vom 20.11.1991.

(2) Quelle: Elf EU-Staaten erhöhen Mindestlöhne - in Westeuropa mindestens 8,40 Euro pro Stunde – Pressemeldung der Hans-Böckler-Stiftung vom 5.3.2009. http://www.boeckler.de/320_94418.htmlQuelle: Elf EU-Staaten erhöhen Mindestlöhne - in Westeuropa mindestens 8,40 Euro pro Stunde – Pressemeldung der Hans-Böckler-Stiftung vom 5.3.2009. http://www.boeckler.de/320_94418.html

(3) “Mindestlöhne sind unsozial” - Presseerklärung des Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister (AMP), Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer (ASU), Bundesverband der Selbständigen (BDS), Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU (MIT) und Wirtschaftsrat der CDU. http://www.presseportal.de/pm/42899/948357/der_wirtschaftsrat_der_cdu

(4) Ich möchte diese Ausführungen nicht als Plädoyer für Mindestlöhne per se verstanden wissen, sondern als Appell vermeintlich wissenschaftliche Erkenntnisse nicht unkritisch hinzunehmen. Neben Mindestlöhnen gibt es noch weitere diskussionswürdige Ansätze wie die Negative Einkommensteuer oder Grundeinkommen, die im Bereich der Niedriglöhne Abhilfe schaffen könnten – vieles ist jedoch Sache der rechtlichen Ausgestaltung und geht über die ökonomische Analyse hinaus.

(5) http://guardianoftheblind.wordpress.com/2009/08/18/in-deutschland-muss-niemand-hungern-oder-doch/

(6) Vgl. Schumacher, Egbert: Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit. Ergebnisse der Forschung. München: Profil 1986, S. 19f. Zitiert nach: Otto, Christian: Die Bedeutung der Arbeit für die Persönlichkeit des Menschen.
http://www.hausarbeiten.de/faecher/vorschau/95923.html

(7) Ackermann, Rolf: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist höher als ausgewiesen. In: Wirtschaftswoche vom 1.2.2008. http://www.wiwo.de/politik-weltwirtschaft/die-arbeitslosigkeit-in-deutschland-ist-viel-hoeher-als-offiziell-ausgewiesen-263397/

(8) Grafik aus: Ludewig, Damian et al.: Zuordnung der Steuern und Abgaben auf die Faktoren Arbeit, Kapital, Umwelt. Hintergrundpapier des Fördervereins Ökologisch-soziale Marktwirtschaft. Berlin 2015.
http://www.foes.de/pdf/2015-01-Hintergrundpapier-Steuerstruktur.pdf

(9) Grafik http://blog.zeit.de/herdentrieb/files/2013/10/DE_Erwerbstaetige_und_Arbeitslose_Sept_2013.gif

(10) Grafik nach: Weitz, Volker et al.: Betrifft Volkswirtschaftslehre. Köln: Bildungsverlag Eins 2008, S. 236.

(11) Grafik aus:Institut für Soziologie der Universität Duisburg-Essen, www.sozialpolitik-aktuell.de/tl_files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Arbeitsmarkt/Datensammlung/PDF-Dateien/abbIV4.pdf

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