Als Beispiel für die Überholungsbedürftigkeit von Lehrplänen und Lehrbuchinhalten bietet sich exemplarisch besonders gut das volkswirtschaftliche Modell des „Magischen Vierecks“ an.
Lernprozesse im Allgemeinen und für junge Menschen im Speziellen bedürfen einer didaktischen Reduktion und der
Strukturierung. Sprache als menschliche Fertigkeit und eine konkrete Sprache (z.B. das Deutsche oder Englische) helfen dabei, die Myriaden an Sinneseindrücken zu verstehbaren (wenn auch subjektiv
geprägten) Sinnzusammenhängen zusammenzufassen.
Gesellschafts-, schicht- oder berufsspezifisch usw. werden Konzepte wiederum in Diskursen thematisiert. Diskurse gruppieren sich um Schlagworte, können im Zeitablauf an
Dominanz zu- oder abnehmen. Schließlich werden sie ggf. historifiziert, wie z.B. der Diskurs um die 68er Bewegung, die RAF oder – aktueller – die Deutsche Wiedervereinigung (die praktisch kaum noch
ein Thema aktueller Debatten ist sondern medial de-facto als abgeschlossen gilt).
Schafft es ein Diskurs ins Bildungssystem, so kann er ein besonders langes Eigenleben entwickeln. Das, was dem wissenschaftlichen und medialen Diskurs der Nachhaltigen
Entwicklung erst mit 30-jähriger Verzögerung ganz langsam gelingt (da es sich letztlich um einen paradigmatisch vollkommen neuen Diskurs handelt, der eine Vielzahl traditioneller Diskurse obsolet
oder überarbeitungswürdig macht), schaffte Ende der 60er Jahre die Debatte um die erste Nachkriegskrise der deutschen Volkswirtschaft auf Anhieb.
Gewöhnt an Wachstumsraten um 5% und mehr war die deutsche Öffentlichkeit geschockt über den Rückgang des BIP-Wachstum 1966 auf 2,8% - 1967 gab sogar den ersten Rückgang
mit -0,2%. Die Arbeitslosenquote stieg von 0,7% auf 2,2%. Als eine der Ursache wurde diagnostiziert, dass 1965 die Bundesbank zur Abwehr von Inflationsgefahr den Diskontsatz von 3,5 auf 4% erhöht
hatte - um den Preis der Verteuerung von Krediten und somit der Abbremsung der Konjunktur.(1) Einer breiten Öffentlichkeit wurde bewusst,
dass ein Zusammenhang zwischen Preisniveaustabilität, Konjunktur und Arbeitslosigkeit bestand.
Die Politik reagierte mit dem Gesetz, das bis heute das meistgenannte in deutschen VWL-Lehrbüchern ist: Das Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der
Wirtschaft (Stabilitätsgesetz) von 1967.
Dabei war klar, dass insbesondere das Ziel der Preisniveaustabilität in Konflikt mit dem Ziel der Vollbeschäftigung stand (auf Grund der
Vollbeschäftigung Mitte der 60er Jahre hatten die Gewerkschaften so hohe Tarifabschlüsse erwirken können, dass die Lohnkosten zusätzlich die Konjunktur abbremsten) und auch die anderen Ziele des
Gesetzes durchaus konkurrierend aufgefasst werden konnten: Der Diskurs um das Modell des „Magischen Vierecks“ war geboren.
Die wirtschaftspolitischen Ziele
wurden mit Hilfe des besagten Modells zu einem typischen Gegenstand des volkswirtschaftlichen Unterrichts seither; lassen sich doch mit Hilfe des Magischen Vierecks zentrale Themen strukturieren und als Zielkonflikte problematisieren. Ein dankbarer Unterrichtsgegenstand?
Aus der Sicht der Nachhaltigen Entwicklung und auch rückblickend nach 50 Jahren Stabilitätsgesetz lässt sich jedoch konstatieren, dass dieser „kanonisierte“ Diskurs mittlerweile stark in die Jahre gekommen ist. Die wirtschaftliche Lage heute unterscheidet sich grundlegend von jener des Nachkriegsdeutschland. Trotz der gesetzlichen Verankerung ist gerade das Ziel „Vollbeschäftigung“ seither in immer weitere Ferne gerückt.
Schon früher haben Wirtschaftspädagogen die Rückständigkeit des „Magischen Vierecks“ bemerkt. So wurde es weiterentwickelt zum „Magischen Fünf- oder Sechseck“(3):
Neben den Zielen aus dem Stabilitätsgesetz werden in manchen Lehrbüchern auch die konkurrierenden Ziele „gerechte Einkommensverteilung“ und „Umwelt“ in das Modell eingefügt.
Mit diesen beiden Zielen ist der Übergang zu einer „nachhaltigen“ Sichtweise geschafft. Moderner Wirtschaftsunterricht darf eben nicht mehr von sozialen und ökologischen Wirkungen abstrahieren:
Magische Vielecke - das „Update“
In den meisten Lehrbüchern ignoriert wird, dass das bundesdeutsche Stabilitätsgesetz inzwischen nicht nur durch die politische Praxis, sondern auch längst durch internationale Verträge sowie Richtlinien der EU und supranationale Strategien überholt worden ist. Im Maastricht-Vertrag von 1992 wurden die sogenannten „Konvergenzkriterien“
ganz nach oben auf die politische Agenda gehoben. Es ging dabei vorrangig um die Ermöglichung der gemeinsamen Währung, die ab 1998/2002 im Euro Realität wurde.
2000 verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs der EU die „Lissabon-Strategie“, mit dem Ziel die Union „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen — einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt und eine nachhaltige Umwelt zu erzielen.“ (Der Zusatz „nachhaltige Umwelt“ wurde erst 2001 auf der Konferenz in Göteborg ergänzt.)(4)
Es handelt sich bei diesen strategischen Ausrichtungen der Wirtschaftspolitik sicher um mehr als hehre Worte. Der starke Akzent der nationalen Wirtschaftspolitik auf der „Wettbewerbsfähigkeit“, d.h. der Standortkonkurrenz der Volkswirtschaften untereinander, prägte die Agenden und Gesetzgebungen in den 2000er Jahren (allerdings auch die Konkurrenz zwischen den mit dem Euro verbandelten Staaten, so dass u.a. die ungleiche Entwicklung der Konkurrenzfähigkeit der nördlichen und südlichen Euro-Staaten mit entscheidend zur Euro-Krise ab 2010 beitrug.)
Der aktuelle Nachfolger der „Lissabon-Strategie“ nennt sich „Europa 2020" und hat deutlich weniger Aufmerksamkeit in den Medien erhalten. Der Akzent wird weg von der Konkurrenz der Staaten hin zur stärkeren Förderung von Wissenschaft, Nachhaltigkeitstechnologien gelegt, jedoch bei unveränderter Hauptzielrichtung auf das „Wirtschaftswachstum“.
Was man jedem Modell des „Magischen Vierecks“ zu Gute halten kann, ist, dass es zurecht Zielkonflikte zwischen einer Reihe von (wirtschafts-)politischen Diskursen aufzeigt. Bloß erscheint es stark verkürzt, sich auf die Ziele im engen „wirtschaftlichen“ Bereich zu verengen. Die interessierte Bürgerin kann zuhauf konkurrierende Ziele und Interessenskonflikte in der Tagespolitik finden. Denn neben den bislang genannten Zielen muss ein Politiker noch eine Vielzahl anderer Maximen beachten:
Zwischen all diesen und noch viel mehr konkreten Einflussfaktoren und Zielsetzungen bestehen Konflikte. Immer drastischer werden die Gefahren einer überbordenden Staatsverschuldung offensichtlich, welche eben auch zur „Ankurbelung“ der Wirtschaft benutzt wird (in der Hoffnung auf einen sich selbst tragenden Aufschwung).
Es erscheint fragwürdig, den Schülerinnen ein Bild vom altruistischen Wirtschaftspolitiker zu vermitteln, wie er im verengten Modell des Magischen Vierecks angelegt ist. Wenn man dieses jedoch als Ausgangspunkt nimmt, um auf das Problem vielfältiger Zielkonflikte einzugehen, so lassen sich in der Tat spannende Diskussionen und Rollenspiele anleiten.
Letzten Endes muss (Wirtschafts-)Politik einen Weg durch die Interessen von abermillionen Einzelindividuen – und der Natur bzw. den Interessen zukünftiger Generationen – finden. Als Bild eignet sich das „Magische Vieleck“:
(1) www.politikundunterricht.de/3_99/sechzig6.htm
(2) http://bundesrecht.juris.de/stabg/__1.html
(3) www.hubert-brune.de/laufende_kultur.html
(4) http://circa.europa.eu/irc/opoce/fact_sheets/info/data/policies/lisbon/article_7207_de.htm