Nachhaltige Entwicklung im volkswirtschaftlichen Unterricht
Nachhaltige Entwicklungim volkswirtschaftlichen Unterricht

Zeitwohlstand und erweiterter Wohlstandsbegriff

Zeitwohlstand

 

Machen Sie die Probe und erkundigen Sie sich bei Ihren Lernenden nach ihrer liebsten Freizeitbeschäftigung. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit wird dabei insbesondere ein Hobby eine breite Zustimmung finden: „Chillen.“

 

Die Begrenztheit ökonomischer, aber auch psychologischer Modelle tritt dann offen zu Tage, wenn Sie die Lernenden ihr Bedürfnis nach Nicht-Produktivität (denn nichts anderes bezeichnet der beliebte Anglizismus) in die Maslow’sche Bedürfnispyramide einordnen lassen. Eine eindeutige Zuordnung wird es vermutlich nicht geben: Handelt es sich um ein Existenzbedürfnis, ohne das menschliches Leben nicht denkbar ist? Um ein soziales Bedürfnis, da „Chillen“ unter Jugendlichen sehr oft in Gemeinschaft stattfindet? Oder um ein Bedürfnis der Selbstverwirklichung? Hier dürften die Meinungen durchaus auseinander gehen und eine sichere Zuordnung wird sich abschließend nur schwerlich durchführen lassen. 

 

Der Zugang zum Thema „Zeitwohlstand“ über den Begriff des „Chillens“ gewährleistet, dass Jugendliche sich sehr wohl angesprochen fühlen können von einer Diskussion, den so manche Kommentatoren eher postmaterialistisch-intellektuellen Milieus oder dem saturierten Bürgertum zuschreiben(1). In Zeiten von „Turbo-Abitur“, prekarisierten Nebenjobs, die das Haushaltseinkommen der Familie aufbessern, und bereits frühzeitig gefühltem Zwang zur Optimierung von Lebensläufen können Jugendliche heute sehr wohl ein Lied singen von Zeitknappheit und dem Wert, sich den endlosen Forderungen der Leistungsgesellschaft für eine Weile entziehen zu können.

 

Tatsächlich bietet sogar das traditionelle neoklassische Instrumentarium eine Möglichkeit, den Zielkonflikt von Zeit und Geld aufzudecken („Time is money“): Muss im neoklassischen Arbeitsmarktmodell doch gerade Freizeit für den zu erzielenden Marktlohn aufgegeben werden (dass dabei übersimplifizierte Annahmen über das Substitutionsverhalten des Homo Oeconomicus getroffen werden, ist Gegenstand des Kapitels Arbeitsmarkt). Doch setzen Standard-Lehrbücher zumeist die beständige Leistungsbereitschaft des Arbeitsangebots („Arbeitnehmer“ im allgemeinen Sprachgebrauch, siehe auch Kapitel Linguistische Kritik) voraus, ohne den Eigenwert der Freizeit gebührend in den Blick zu nehmen.

 

Wurde die Präferenz für ein selbstbestimmtes Leben außerhalb gesellschaftlicher Zeitzwänge in den 60er und 70er Jahren als Projekt von „68ern“ und „Hippies“ in der gesellschaftlichen Mitte noch als „Aussteigertum“ kritisch beäugt, so gewann das Thema an bürgerlicher Akzeptanz in den 80er Jahren, erkennbar z. B. am belletristischen Erfolg Milan Kunderas Romans „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“. Der Begriff des „Zeitwohlstands“ wurde vom Ökonomen Gerhard Scherhorn aus der Politikwissenschaft in die Ökonomie übertragen (2) und in den 90er Jahren auch durch Sachbuch-Bestseller wie „Die Kreativität der Langsamkeit“ von Fritz Reheis popularisiert(3). Inzwischen hat eine ganze Welle von postmaterialistischen Sachbüchern eine breite gesellschaftliche Debatte um „Zeitforschung“ und „Zeitwohlstand“ etabliert, in der in den letzten Jahren der Wirtschaftspädagoge Karlheinz Geißler regelmäßig zur dieser Thematik publizierte und damit die Ökonomie zurück in den Rang einer Sozialwissenschaft in direkter Nachbarschaft zur Philosophie holte, zuletzt durch das Sachbuch „Time is honey – Vom klugen Umgang mit der Zeit“(4).

 

Sehnsucht nach Zeitwohlstand

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Einführung ins Thema von Karlheinz Geißler

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Interviews mit Karlheinz Geißler sowie drei weiteren Zeitforschern finden sich in den Bildungsmaterialien des Projekts „Endlich Wachstum!“ von Konzeptwerk Neue Ökonomie und Fairbindung e.V.:

Höher, schneller, besser, weiter. – Texte zum Umgang mit Zeit in der Gesellschaft.

Die Publikation bietet auch didaktische Anregungen zum Umgang mit den Texten.

 

Wohlstandsbarometer

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Wohin geht meine Zeit? + Dimensionen des Wohlstands
Selbsteinschätzung der eigenen Lebensverhältnisse

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An Hand des „Wohlstandsbarometers“ können Lernende eine Selbsteinschätzung der eigenen Lebensverhältnisse vornehmen. Zunächst reflektieren sie ihr Wochenbudget an Zeit: Wieviel Prozent gehen drauf für Schlafen, Essen, Verkehrswege, Lernen, Arbeiten, Sport, Computer usw.. Wichtiger als die mathematische Exaktheit dürfte der Reflexionsprozess selbst sein. Die Lernenden erkennen, wieviel Zeit sie für selbstbestimmte Tätigkeiten (oder das oben erwähnte Chillen) haben. Dabei kann auch zur Sprache kommen, dass die Maximierung von selbstbestimmter Zeit auch nicht immer zielführend ist - wie das Beispiel unfreiwillig Arbeitsloser zeigt, die vermutlich allzu oft auf ihre „Freizeit“ keinen gesteigerten Wert legen; und nicht nur Musterschüler werden einsehen, dass Blaumachen in der Schule auf Dauer keine gute Idee ist.

 

Weitere Wohlstandsdimensionen

 

Güterversorgung und verfügbares Zeitbudget sind nicht die einzigen Dimensionen von Wohlstand – so zeigt die zweite Übung zur Selbsteinschätzung (die wie die erste am besten privat bleibt und nicht im Klassenverband oder der Gruppe verglichen werden sollte). Hier wird zusätzlich ein erweiterer Wohlstandsbegriff eingeführt, der auf Hans Holzinger von der Robert Jungk Bibliothek zurückgeht.

 

Die Dimensionen des Wohlstands müssen ihrerseits ggf. noch etwas erläutert werden:

  • Tätigkeitswohlstand: Wie zufrieden bin ich mit meiner aktuellen Beschäftigung, meiner Erwerbsarbeit oder auch meiner privaten und ehrenamtlichen Arbeit? Fühle ich mich dort ausreichend wertgeschätzt, identifiziere ich mich mit ihrem Zweck und den mir gestellten Aufgaben?
  • Ernährungswohlstand: Wie gut ernähre ich mich? Habe ich täglich eine warme Mahlzeit? Besteht meine Nahrung vorwiegend aus Fast Food oder kann sie als ausgewogen mit genügend Obst, Gemüse und gesunden Nährstoffen bezeichnet werden? Wie hoch ist der Anteil von Bioprodukten? 
  • Raumwohlstand: Wieviel Platz habe ich zum Leben? Bin ich damit zufrieden oder sind meine Wohnung und mein Wohnumfeld zu eng? Eine Wohnung kann auch zu groß für die eigenen Verhältnisse sein…
  • Beziehungswohlstand: Wie zufrieden bin ich mit meinem persönlichen Umfeld? Wie läuft’s in Familie und Freundeskreis? Wie verstehe ich mich mit Nachbarn, Arbeitskolleg/innen, Mitschülern? Gibt es genügend Kontakte? Zu viele? Fühle ich mich eingeengt, unterstützt, verstanden? Inwieweit kann ich für andere da sein?

 

Je nach Bildungsgang, Zugang zum Thema und Alter der Schülerinnen und Schüler können auch die von Holzinger inzwischen ergänzten Dimensionen Informationswohlstand und Demokratiewohlstand diskutiert werden(5):

  • Informationswohlstand:  Wie gut fühle ich mich über gesellschaftliche und weltweite Themen informiert? Verstehe ich, was in den Medien diskutiert wird? Kann ich neue Informationen gut zu meinen bisherigen Kenntnissen zuordnen oder überfordert mich die Informationsflut in der modernen Informationsgesellschaft? Kann ich mir fehlende Informationen leicht (z. B. über das Internet) besorgen oder weiß ich oft nicht so recht, wo und wie ich suchen soll? Wie nützlich sind die Informationen, die ich bekomme? Dienen sie nur persönlichen Interessen oder kann ich sie auch für Fragen von Arbeit, Karriere und eigenem Haushalt verwenden?
  • Demokratiewohlstand: Fühle ich mich politisch mündig? Habe ich das Gefühl, dass ich die Gesellschaft mitgestalten kann, oder kann ich nichts daran ändern, was für Entscheidungen die Politik fällt? Kann ich politische Parteien voneinander unterscheiden? Stütze ich mich dabei auf Sachwissen oder bin ich auf Meinungen von Medien oder von Mitmenschen angewiesen? 

 

Zur Vertiefung des Themas empfiehlt der Zukunftsforscher Holzinger die Messung des Wohlstands in der Währung Euphoro. Ein interaktiver Fragebogen des Vereins SOL, Menschen für Solidarität, Ökologie, Lebensstil, findet sich hier.

 

 

Curriculare Verortung des Themas

 

Die Themen um Zeitwohlstand und den erweitertern Wohlstandsbegriff sind mannigfaltig und eröffnen Diskussionsspielraum in vielen verschiedenen Richtungen. Denn auch der erweiterte Wohlstandsbegriff kann kritisch diskutiert werden:

 

  • Nicht nur der Güterwohlstand, sondern mindestens auch der Raum- und Ernährungswohlstand haben sehr viel mit der klassischen Einkommens- und Vermögensverteilung zu tun. Mainstreamökonomen könnten durchaus fragen, ob monetäre Messgrößen wie das BIP am Ende nicht doch eine hinreichende Aussagekraft für das Wohlstandsniveau haben.
  • Nicht zuletzt Abraham Maslow revidierte in späten Veröffentlichungen seine ursprünglichen Studien zu den Bedürfnisebenen und setzte die Transzendenz an den Spitze seiner Hierarchie. Die Beschränkung auch des erweiterten Wohlstandsbegriffs auf säkulare Aspekte des Lebens übergeht die Frage, ob denn der Mensch von Brot allein“ lebt oder ob denn neben neueren Ideen eines erfüllten Lebens (la buena vida) oder der Glücksökonomie auch die religiös-spirituelle Sinnfrage nicht mindestens ebenso zu diskutieren wäre. Hier zeigt sich, dass die Entfremdung der Wirtschaftswissenschaften von ihren historischen Wurzeln in der Philosophie in gewisser Weise zu einer erkenntnistheoretischen Verarmung geführt hat. In Wissenschaft und Gesellschaft werden entsprechende Diskurse auch unter den Schlagworten der Mathematisierung der Ökonomik bzw. der Ökononomisierung der Gesellschaft geführt. 

 

Gerade der letzte Punkt zeigt, dass ökonomische Fragen im weiteren Sinne auf der Stundentafel nicht allein vom zeitgenössischen Wirtschaftsunterricht beantwortet werden können, sondern auch den Religions- oder Philosophieunterricht berühren.

 

Die Anbindung im volkswirtschaftlichen Unterricht selbst ist ebenso an zahlreichen Stellen möglich. Üblich ist sie oft in Zusammenhang mit der Kritik an BIP und der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Es empfiehlt sich durchaus eine frühzeitige Integration in den Unterricht. Wie angedeutet neigt die Mainstream-VWL dazu, sich rein auf Produktions- und Konsumprozesse zu beschränken. Wohlstand wird in den meisten Curricula von Anfang an recht einseitig an der Güterversorgung fest gemacht. Um auch im fortlaufenden Unterricht immer wieder an den erweiterten Wohlstandsbegriff anknüpfen zu können, kann die Unterrichtseinheit gut an Grundlagenthemen wie Bedürfnisse oder Güter angegliedert werden.

 

 

(1) Vgl. Brauck, Markus/Hawranek, Dietmar: Überdruss am Überfluss“. In: Der Spiegel 14/2014 vom 31.03.2014.  Url: www.spiegel.de/spiegel/print/d-126267968.html

(2) Vgl. Zeitwohlstand (Wikipedia) Url: https://de.wikipedia.org/wiki/Zeitwohlstand

(3) Reheis, Fritz: Die Kreativität der Langsamkeit. Neuer Wohlstand durch Entschleunigung. Hamburg 1998.

(4) Geißler, Karlheinz/Geißler, Jonas: Time is Honey. Vom klugen Umgang mit der Zeit. München 2015.

(5) Holzinger, Hans: Neue Bilder von Wohlstand entwickeln. Übungen zum Thema Nachhaltigkeit.
Url: https://jungkbibliothek.files.wordpress.com/2016/02/was-ist-wohlstand1.pdf

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