Nachhaltige Entwicklung im volkswirtschaftlichen Unterricht
Nachhaltige Entwicklungim volkswirtschaftlichen Unterricht

Die Manipulation durch die ökonomische Fachsprache

Die allgegenwärtige Manipulation durch Sprache beginnt bereits mit dieser Überschrift. Schon vom lateinischen Wortstamm her beinhaltet das Wort „Manipulation“ die Vorstellung, dass irgendwie die Hand einer übergeordneten Macht im Spiel ist. Und in vielen Fällen trifft dies ja auch zu. Aber nicht in allen. Sprache „manipuliert“ auch, wenn sie ohne bewusste Zielsetzung des Sprechenden eingesetzt wird. Korrekter wäre also der Begriff „Beeinflussung“. Nur eignet sich dieser schlechter als reißerischer Titel auch für eine Webseite zum Thema „linguistische Kritik am ökonomischen Fachjargon“...

 

Tatsächlich arbeiten Millionen von Menschen in Werbe-, PR-Agenturen von Unternehmen, Organisationen, Medien und Parteien Tag für Tag, um die Öffentlichkeit im eigenen Sinne zu beeinflussen. Eines der wirkmächtigsten Instrumente ist dabei die Sprache - oder, moderner ausgedrückt, das Wording, die Sprachregelung, das Narrativ.

 

Wehren dagegen kann man sich nur durch Bewusstmachung. Denn jedes Wort einer Sprache beinhaltet eine Wolke an „Konnotationen“ und „Assoziationen“, die bei den Hörer*innen oder Leser*innen geweckt werden. Im Bereich der Geschlechterzuordnung ist die Wirkmächtigkeit seit einigen Jahren auch durch das sogenannte „Gendern“ einer breiten Öffentlichkeit bewusst geworden. Auch wenn die dabei diskutierten neuen Sprachregelungen von manchen Menschen als Bevormundung einer „Sprachpolizei“ abgelehnt werden, so kann niemand bestreiten, dass die deutsche Sprache ohne Anstrengungen zum Gendern oftmals einseitige Geschlechterassoziationen beinhaltet. Wenn ich meine Kollegin einem Dritten gegenüber als „Lehrer“ bezeichne, wird dieser (oder diese??) automatisch auf einen männlichen Kollegen schließen.

Auch im Bereich „politisch-korrekter“ Sprache hat die Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten dazugelernt. Es ist den allermeisten Menschen klar, dass gesellschaftliche Gruppen oder Kulturen durch die verwendeten Bezeichnungen diffamiert und ausgegrenzt werden können. Unermessliches Leid ist dadurch in der menschlichen Geschichte produziert worden - vermeidbar in wenigstens jenen Fällen, in denen solche Begriffe unbedacht und ohne bewusst ausgrenzende Wirkung benutzt wurden.

 

Sehr wenig Aufmerksamkeit genießt dagegen eine ökonomische Fachsprache, die Eingeweihten als Selbstverständlichkeit erscheint und durch ihre Wissenschaftlichkeit ein Autoritätsgefälle erzeugt. Doch werden ökonomische Diskurse stärker als jene anderer Wissenschaften durch eine nicht in der Fachsprache ausgebildete Öffentlichkeit übernommen und damit Vorstellungen und Narrative über die Wirtschaft gespeist, die ihrerseits wiederum auf akademische Wirtschaftstheorien zurückfallen. Eine stärkere Bewusstmachung von Falltüren und im Endeffekt manipulativen Sprachbildern ist mithin Voraussetzung für eine Hinterfragung, Neubewertung und Weiterentwicklung von ökonomischer Theorie - gerade auch im Sinne der Nachhaltigen Entwicklung.

 

In den letzten Jahren sind hier auch einige publizistische Aktivitäten entstanden. Die Initiative der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) hat durch ihre Wahl zum „Unwort des Jahres“ mittlerweile ein breites Medienecho ausgelöst. Des Weiteren beschäftigen sich Verfasser*innen von Sachbüchern ebenfalls mit der Wirkung und der Beeinflussung durch Sprache. Zwei Bücher der vergangenen Jahre liegen auch meinen Ausführungen zur Thematik zu Grunde.

 

Mit ihrem Sachbuch „Die Sprache des Kapitalismus“(1) haben der Literatur- und Kulturwissenschaftler Simon Sahner und der Ökonom Daniel Stähr eine gut lesbare Streitschrift vorgelegt, die zum bewussteren Umgang mit unserer Alltagssprache aufruft. Ihre Ausführungen tangieren die Wirtschaftsdidaktik nur indirekt, denn ihre Kritik richtet sich an die Allgemeinheit, die populär- und vulgärwissenschaftliche Interpretationen des wirtschaftlichen Geschehens unreflektiert oder (im Falle von PR) bewusst manipulativ in ihre Narrative überführt. Da Wirtschaftsunterricht aber in genau diesem gesellschaftlichen Umfeld stattfindet, ist die Lektüre des Buches zum Verständnis des von Lernenden transportierten Hintergrundwissens sicherlich ausgesprochen wertvoll.

 

Typische Sprachphänomene in ökonomischen Diskursen sind:

 

  • Sprachbilder und Metaphern: Bereits Ende der 90er Jahre rief die britische Wochenzeitung Economist Deutschland als den „kranken Mann Europas“ aus. Die mageren Wachstumsraten des BIP waren der Hintergrund für die Hartz-Gesetze der damaligen rot-grünen Bundesregierung. 2023 war es wieder soweit, in Folge der vermeintlich pathologischen „Wachstumsschwäche“ wurde die Metapher mit nationalchauvinistischem Unterton aus der Klamottenkiste hervorgekramt und das Unverständnis der statistischen Grundlagen des BIP für irreführende Schlagzeilen und Polit-PR missbraucht.(2)
    Die in Folge des russisch-ukrainischen Krieges und der nachfolgenden Spekulation an den Finanzmärkten gestiegenen Energiepreise wurden in der Publizistik schnell zum „Energie-Preis-Tsunami“.(3) Die reißerische Metapher war geeignet, angesichts der Erinnerungen an die verheerenden Naturkatastrophen der vergangenen zwanzig Jahre Urängste vor Kontrollverlust zu wecken. Auch den Mietern drohte publizistisch zuletzt ein „Miet-Tsunami“. Die Intention der Wortschöpfungen aus Sicht von Zeitungsredaktionen oder Politiker*innen dürfte relativ nachvollziehbar sein. Sahner und Stähr führen die Wirkmächtigkeit der Metapher aber auch auf eine – aus ihrer Sicht – irreführende Ausdrucksweise der Ökonomik selbst zurück. Aus ihrer Sicht „steigen“ Preise niemals von alleine (erst recht nicht zu einem Tsunami), sondern werden von den jeweiligen Anbietern aktiv „erhöht“. (Anmerkung PB: Wirtschaftstheoretisch zuzustimmen ist ihnen im Falle des Monopols oder ggf. Kartells. Ansonsten steht ihr Preisbildungsverständnis im diametralen Widerspruch zur (neo)klassischen Markttheorie, die ja (im Konkurrenzfall) von einem Marktpreis ausgeht, der vor der einzelnen Marktakteurin gerade nicht selbstständig verändert werden kann, sondern durch eine Marktdynamik quasi naturgesetzlich automatisch entsteht.)
  • Tote Metaphern: Leider vertiefen Sahner und Stähr den Begriff nicht in Bezug auf  ökonomsiche Terminologie. Aber ihr Hinweis auf Sprachbilder, die als Begriffe längst in die Alltagssprache integriert sind, ohne noch reflektiert zu werden, ist in jedem Fall sehr erhellend. Wörter wie „Flussbett“, „Tischbein“ oder „Baumkrone“(4) sind in der deutschen Sprache ebenso selbstverständlich geworden wie der Begriff „Wirtschaftswachstum“. Sie werden gar nicht mehr als Metaphern verstanden und hinterfragt. Andere Beispiele sind „Arbeitnehmer“ und „Arbeitgeber“, die als Fach- und Alltagsbegriffe längst etabliert sind und bei denen die dabei transportierte Ideologie (siehe unten) nicht mehr wahrgenommen wird. Auch die „Schuldenbremse“ stünde sicher in Gefahr, als „tote Metapher“ in den allgemeinen Sprachgebrauch überzugehen. Glücklicherweise hat die Pubilizistik derzeit einen Gegendiskurs entwickelt, so dass dieser PR-Begriff möglicherweise nach seiner (hoffentlich) verfassungsrechtlichen Streichung nur eine befristete Lebensdauer haben sollte.
  • Redewendungen und Phrasen: Sage und schreibe 23000 Artikel mit der Phrase „too big to fail“ haben Sahner und Stähr zwischen 2013 und 2023 in den US-amerikanischen Medien gefunden.(5) Sie kritisieren an dem Begriff, das damit die Privatisierung von Gewinnen und die Sozialisierung von Verlusten hoffähig gemacht würde. Indem (ohne jeden wissenschaftlichen Beweis) Unternehmen als zu groß bezeichnet werden, als dass sie die eingegangenen Unternehmensrisiken selber schultern, sondern bei Gefahr der Insolvenz vom Staat „gerettet“ werden müssten, könnten Konzernmanager im sicheren Wissen, dass der Staat für ihre Verluste gerade steht, jedes beliebige Risiko eingehen.
  • Mythen: Kapitalistische Selbsterzählungen von profilierten Unternehmensgründern wie Steve Jobs oder Elon Musk etablieren ökonomische Narrative wie jenes vom „Tellerwäscher zum Millionär“. Was solche Mythen ausspraren, ist der Anteil der Gesellschaft bzw. des Staates an ihrem Unternehmenserfolg. So hat die Ökonomin Mariana Mazzucato am Beispiel des Smartphones aus dem Hause Apple nachvollzogen, dass praktisch keine der dortigen Innovationen von Steve Jobs oder Apple selbst erfunden wurde, sondern alles durch staatlich finanzierte Forschung entwickelt worden war und lediglich (oder immerhin..) durch eine geeignete Montage mit herausragender Ästethik zum Markterfolg gebracht wurde.(6)

  • Erzählungen/Narrative: Während die Nutzung von potentiell manipulativer Sprache in PR-Abteilungen und Werbeagenturen für die meisten Leser*innen sicherlich keine Erkenntnis sein dürfte, so bemerkenswert ist die Analyse von Filmen, die vermeintlich eine kapitalismuskritische Handlung haben. Die Autoren unterstellen zum Beispiel den Filmen Wolf of Wall Street oder American Psycho, die plakativ vor sich hergetragene Kritik am Finanzkapitalismus dadurch zu entwerten, dass sie ihre Hauptdarsteller als ziemlich coole Typen inszenieren, die durch ihre laxe Moral einem ausufernden Hedonismus frönen. Für viele unkritische Betrachter*innen käme die Systemkritik zu kurz und erschiene der Reiz der porträtierten Glitzerwelt des Kapitalismus überzeugender als der intellektuelle Subtext. Der Hauptdarsteller Gekko „hat alles, was in den Grenzen einer kapitalistischen und patriarchalischen Leistungsgesellschaft erstrebenswert ist. Er sieht gut aus, hat ein riesiges Büro in Manhattan, eine Villa am Strand, attraktive junge Frauen um sich herum und ist darüber schlagfertig und cool. Dass er […] am Ende des Films wegen illegaler Insider-Tradings ins Gefängnis muss, mutet wie eine Fußnote an, die der Film pflichtschuldig anfügt.“(7) Ähnlich wie es mit den Erzähltraditionen Hollywoods nahezu unmöglich sei, einen wirklich kriegskritischen Film zu produzieren, der nicht gleichzeitig den Krieg als Ort der individuellen Reifung und des persönlichen Siegs glorifiziert, so sorgen Ästhetik, aber auch die Sprache dafür, dass auch im systemkritischen Film der Kapitalismus als überlegenes Wirtschaftssystem letzten Endes immer als Gewinner herauskommt.

     

Eine Vielzahl weiterer interessanter Beispiele aus der Alltagskultur macht das Buch von Simon Sahner und Daniel Stähr zu einer spannenden Lektüre. Auch sind ihre kritischen Gedanken auch zu vermeintlich transformativen Begriffen wie „Klimaneutralität“, „Grünes Wachstum“ oder dem „ökologischem Fußabdruck“ für Nachhaltigkeitsaktive mehr als bedenkenswert.

Einziges Manko ist, dass sie die Sprachkritik für die Entwicklung eines neuen Gesellschaftsmodells jenseits des „Kapitalismus“ vielleicht etwas überbewerten. Ihre Rückführung fast jedes kulturellen Phänomens auf den „Kapitalismus“ erscheint manchmal etwas ideologisch. Es bleibt am Ende auch offen, wie sie den Übergang vom aktuellen System zum Postkapitalismus schaffen wollen, wenn sie zum Beispiel Lösungsansätze wie Umweltsteuern oder CO2-Lizenzen als Teil einer kapitalistischen Erzählung ebenfalls ablehnen.(8) Am Ende des Tages wird eine sozial-ökologische Transformation aber nicht zur Wirklichkeit werden, wenn sie nicht sprachlich flankiert wird. Was das Buch von Simon Sahner und Daniel Stähr lehrt, auch Gegenerzählungen zu kapitalistischen Narrativen sind vor manipulativem Potential nicht gefeit. Und dieses Potential legen sie ihrer Leserschaft erfolgreich frei.

 

Während Sahner/Stähr in ihrem Buch die gesellschaftliche Kultur betrachten und wie sie mit Begriffen und Narrativen aus ökonomischen Kategorien durchsetzt ist, thematisiert der englische Erfolgsautor John Lanchester (sein Finanzmarkt-Roman „Das Kapital“ bescherte ihm 2012 den Durchbruch auch in den deutschsprachigen Bestseller-Listen) explizit die in Ökonomenkreisen gepflegte Fachsprache. In seinem Sachbuch „Die Sprache des Geldes – Und warum wir sie nicht verstehen (sollen)“(9) konzentriert sich der Spross einer Bankerfamilie auf die Darstellung der Terminologie, die auf den Finanzmärkten zum Allgemeingut gehört, die jedoch Außenstehenden ohne fachliche Ausbildung das Verständnis komplexer, teilweise aber auch einfachster Zusammenhänge erschwert oder sogar unmöglich macht. Er verdeutlicht, weshalb gerade diese Geheimniskrämerei der Finanzbranche das Entstehen der Weltfinanzkrise seit 2008 erst ermöglichte und immer noch verhindert, dass systemrelevante Reformen des Banken- und Finanzsektors angegangen werden.

 

Lanchesters Buch beinhaltet neben einer längeren Einleitung und einem ebenso umfassenden Ausblick in die Wirtschafts- und Finanzpolitik ein umfangreiches Glossar von vorwiegend finanztechnischen Fachbegriffen. Allgemeine Wirtschaftstheorie wird nur am Rande behandelt, aber auch hier finden sich einige erhellende Übersetzungen des ökonomischen „Fachchinesisch“ in allgemein verständliche Umgangssprache.

 

Seine Sprachkritik zielt im Wesentlichen auf zwei Probleme des ökonomisch-finanztechnischen Diskurses:

  • Der Fachjargon mache es Normalbürger*innen ohne einschlägige Ausbildung in Finanzberufen unmöglich nachzuvollziehen, wovon auf den Geld- und Finanzmärkten eigentlich die Rede ist. Wenn z.B. der Effekt von 'QE2 auf M3' diskutiert wird, handele es sich um eine Art Geheimsprache, die Nicht-Eingeweihte von vorneherein ausschließt.
  • Bestimmte Begriffe verschleierten ihre wahren Implikationen für die Allgemeinheit. Wenn z.B. von „Umstrukturierungen“ die Rede sei, so handele es sich um einen Euphemismus für den Arbeitsplatzabbau. Lanchester prägt sogar den Begriff einer „Gegenteilisierung“ von Bedeutungen: So spiegele der Begriff „Sekuritisierung“ eine Erhöhung der Sicherheit vor. Tatsächlich war die Sekuritisierung von unkontrollierten Kreditrisiken in Nordamerika der Unsicherheitsfaktor, der als erster Dominostein die Weltfinanzkrise 2008 in Gang setzte.

 

 

Ökonomisches „Fachchinesisch“

 

Die Existenz von Fachsprachen liegt in der Natur der Sache. Weinkenner haben ein riesiges Repertoire an Begrifflichkeiten entwickelt, um einen Spitzenwein von einem billigen Fusel zu unterscheiden. Ihre langjährige Erfahrung aus Weinproben hat ihre Gaumen und Zungen so verfeinert, dass ihre Sprache auch für Gelegenheits-Weintrinker unverständlich bleibt.

Somit ist gegen einen ökonomischen Fachjargon vom Grundsatz her nichts einzuwenden. Man kann eben auch nicht erwarten, Diskurse von Experten und Wissenschaftlern nachzuvollziehen, wenn man nicht bereit ist Anstrengungen zu unternehmen, neben den fachlichen Zusammenhängen auch die zugehörige Sprache zu erwerben.

Dennoch beklagt Lanchester auch ein Stück die Ausgrenzung der medialen Öffentlichkeit seitens der Banken- und Versicherungswirtschaft. Denn nicht alle Finanzmarktvorgänge sind so kompliziert, wie es die Fachterminologie glauben machen will: „Inflation“ ist ja noch hinlänglich bekannt und bezeichnet eine allgemeine Preissteigerung (bzw. die Geldentwertung). Neuer und noch relativ unverständlich erscheint die „Austerität“, welche einfach eine Senkung der Staatsausgaben darstellt. Ein „Haircut“ ist ein massiver Vermögensverlust durch eine fehlgeschlagene Finanzanlage – hier meint Lanchester, dass „viele Finanzleute den saloppen, machohaften Klang dieses Begriffs ziemlich cool“(10) finden.

Insgesamt begeht Lanchester nicht den Fehler an Verschwörungstheorien zu stricken. Selbst wenn im Einzelfall die Finanzbranche kein Interesse daran haben mag, dass Kunden oder die mediale Öffentlichkeit ihre Geschäftsgebaren zur Gänze verstehen, so erklärt sich die Komplexität der Fachsprache einfach auch mit den multiplen Zusammenhängen zwischen Realwirtschaft, Finanzmarktprodukten und Finanzmarktrecht. Der reißerische Titel des Buches, der unterstellt, dass böse Mächte uns am Verständnis der Finanzmärkte hindern wollen, dürfte vom Verlag aus Marketing-Gründen gewählt worden sein. Als roter Faden in Lanchesters Argumentation lässt sich die bewusste Irreführung nicht feststellen.

 

Euphemismen und „Gegenteilisierungen“

 

Nichtsdestotrotz ist die Finanzmarktsprache durchzogen von Fachbegriffen, die sich von ihrer wörtlichen Bedeutung oder ihrer ursprünglichen Bewandtnis weit entfernt haben. Sprachentwicklung verläuft zu dynamisch, zu unberechenbar, als dass man für jede Wortneuschöpfung eine bewusste Irreführung unterstellen könnte. Lanchester zeigt auch an zahlreichen Beispielen, wie eine vielfältige historische Entwicklung von Fachtermini ablief.

Gerade Wirtschaftspädagog*innen sollten sich bewusst sein, dass der unflektierte Gebrauch von Fachvokabular Vorstellungen und Weltbilder prägt, die der Realität nicht immer gerecht werden. Besonders gefährlich sind hier die von Lanchester dargestellten „Gegenteilisierungen“ (im englischen Orginal: reversification). Dabei handelt es sich um Begriffe, die inzwischen das genaue Gegenteil von dem bedeuten, was ihr wörtlicher Stamm einmal beinhaltet hat. Einige der von Lanchester vorgestellten Beispiele lassen sich im Deutschen jedoch nicht nachvollziehen. So bedeutet „Hedgefond“ heute eine Anlageform, mit der besonders große Risiken verbunden sind; der Begriff hat sich grundlegend geändert, denn „to hedge“ bezeichnete ursprünglich das Eingrenzen von Risiken. Auch „Bail-out“, die Rettung von insolventen Banken oder Staaten durch Staatshilfen, d.h. Geldspritzen, ist das genaue Gegenteil der eigentlichen Bedeutung des Ausschöpfens von Wasser aus einem leckgeschlagenen Boot. Deutsche Muttersprachler*innen kennen allerdings in der Regel nur die finanzmarkttechnische Bedeutung und werden durch die Alltagssemantik des – wenn auch erklärungsbedürftigen – Fachbegriffs nicht unnötig in die Irre geführt.

 

Andere Begriffe müssen aber auch im Deutschen mit Vorsicht genossen werden:

  • Reform: „Eine Art Kaugummiwort. In seiner modernen ökonomischen Ausprägung wird es niemals und zu keinem Zeitpunkt bedeuten, dass man plant, mehr Leute einzustellen, der vorhandenen Belegschaft ein höheres Gehalt zu bezahlen oder bessere Arbeitsbedingungen zu schaffen. Stattdessen heißt ‚Reform‘ für gewöhnlich, dass man Leute entlässt und denjenigen, die bleiben dürfen, weniger Geld für eine größeres Arbeitspensum zahlt.“(11)
  • Rente: „In der Ökonomie hat der Begriff einen etwas anderen Sinngehalt“ als in der Alltagssprache, „er umfasst alle Bereiche, bei denen jemand Geld verdient, ohne etwas dafür zu tun oder herzustellen, sondern einfach nur dadurch, dass sich etwas in seinem Besitz befindet, das andere Leute brauchen.“(12)
  • Risiko: „Wenn Ökonomen von Risiken sprechen, dann meinen sie genau das: Resultate, die sich anhand von Wahrscheinlichkeitsberechnungen präzise kontrollieren lassen.“(13)
  • Steuerprogression: „Ein System, bei dem die Reichen mehr Steuern zahlen als die Armen. […] Dennoch kann es auch bei einer progressiven Besteuerung dazu kommen, dass die Armen insgesamt einen wesentlich höheren Anteil ihres Einkommens an Steuern aufbringen müssen als die Reichen, weil sie proportional gesehen wesentlich höhere indirekte Steuern zahlen, wie etwa die Mehrwertsteuer.“(14)
  • Synergie: „Wenn [der Begriff] überhaupt etwas bedeutet, dann den Zusammenschluss zweier Unternehmen, bei dem die Unternehmensführung die Gelegenheit bekommt, Leute zu entlassen.“(15)

Die Liste ließe sich noch fortsetzen.

 

Beschönigungen (Euphemismen) sind sowohl in der Werbung als auch im politischen Geschäft an der Tagesordnung. In gewissem Maße rechnen wir auch als Kund*innen oder Wähler*innen damit, dass ein gewisses Maß an „Bullshit“, d.h. „Beschiss“, untrennbar mit menschlichen (Wirtschafts-)Beziehungen verbunden ist – und Lanchester weist darauf hin, dass es auch Spaß machen kann, die versteckten Bedeutungen von Sprache zu entschlüsseln. Kund*innen nehmen ohne mit der Wimper zu zucken den Sonderrabatt eines Händlers mit, obwohl allen klar, ist, dass dieser Sonderrabatt als Teil des üblichen Verkaufsprozesses bereits in den Listenpreis bereits einkalkuliert wurde. Übertreibungen und „kleine Lügen“ werden - gerade im Wirtschaftsleben - gesellschaftlich akzeptiert. Mit den Worten des Internet-Aktivisten John Perry Barlow gesprochen: Die Schlitten, mit denen wir in die Zukunft rauschen, sind mit Bullshit geschmiert.“(16)

 

Pädagog*innen stehen jedoch in einer anderen Verantwortung. Nichts ist kontraproduktiver als ein zynischer Unterricht, der entweder kommentarlos die Irreführung junger Menschen in Werbung und Politik kopiert oder aber Frustrationen über den Zustand der Menschheit reflektiert. Auch Lanchester konstatiert, dass selbst „Bullshit“ am Ende auch nicht ohne Konsequenzen bleibt, weil er mittelfristig das Vertrauen in seinen Gegenüber untergräbt. Darum ist es wichtig, mit Bedacht auf Doppeldeutigkeiten, Ambivalenzen und unterschwellige Botschaften wirtschaftswissenschaftlicher Fachbegriffe einzugehen.

  • „Austerität“: Vom Lateinischen her bedeutet das Wort „sittenstreng“ oder „enthaltsam“. „Mit dem Wort ‚Austerität‘ versucht man Einschnitte in den Staatsausgaben, die konkrete Personen betreffen, moralisch zu unterlegen und wertorientiert klingen zu lassen.“(17)
  • „Extraktive Unternehmen“: Sozusagen moderne „Raubritter“, Unternehmen, die keinen Beitrag zur Produktionsverbesserung leisten, sondern durch geschickte Finanzmarktmanöver versuchen, sich einen größeren Anteil am Kuchen anderer zu sichern.(18)
  • „angebotsseitige Wirtschaftspolitik“: „Politische Maßnahmen, die sich auf den angebotsseitigen Sektor beziehen, sollen Herstellung und Profit fördern, was oft in Form von Steuersenkungen geschieht. Daher stehen die Begriffe ‚angebotsseitig‘ oder ‚angebotsorientiert‘ häufig für den wohlhabenderen Teil der Gesellschaft. ‚Angebotsseitige Wirtschaftspolitik‘ heißt in der Praxis ‚Wirtschaftspolitik für Reiche‘, weil besagte politische Maßnahmen wie Steuersenkungen und regulatorische Einschnitte bei den Reichen immer sehr populär sind. Man glaubt, auf diesem Wege einen sogenannten ‚Trickle-Down-Effekt‘ (Durchsickereffekt) zu erzeugen. […] Das Geld würde von oben nach unten durch das wirtschaftliche System sickern (‚trickle down‘), und jeder hätte etwas davon. Wenn das so funktionieren würde, dann müsste doch wohl – so sollte man zumindest meinen – mittlerweile irgendetwas davon unten angekommen sein.“(19)

 

Lanchesters Zusammenstellung des Finanzmarktjargons ist erhellend und amüsant zu lesen. Vor allem für Wirtschaftspädagog*innen im Bereich Bank- und Versicherungswesen dürften auch die (hier nicht erwähnten) tiefergehenden Ausführungen neue Sichtweisen eröffnen.

 

Ökonomische „Unworte des Jahres“

 

Kritik der ökonomischen Sprache ist nicht neu. Ausgehend von einer Initiative der Gesellschaft für deutsche Sprache 1991 versucht die Sprachkritische Aktion Unwort des Jahres alljährlich mehr Sprachbewusstheit anzuregen. Indem sie das „Unwort des jahres“ kürt, legt sie sozialpolitische, ideologische und psychologische Bewusstseinshaltungen des Sprachgebrauchs  in den Medien offen. Zumeist handelt es sich um Schlagworte aus politischen oder medialen Debatten und erfreulicherweise lässt sich feststellen, dass die unmenschlichsten Wortkreationen nach ihrer Brandmarkung durch die Jury nur noch wenig in Erscheinung treten.

 

Wohl ist der „Sieger“ der Wahl des Jahres 2004 als vom US-amerikanischen Ökonomen Theodore Schultz geprägter Fachbegriff weiterhin Standard(20), allerdings wurde seine ubiquitäre Verwendung in den Medien eingegrenzt: „Humankapital“ degradiere Menschen zu nur noch ökonomisch interessanten Größen, führte die Jury aus. Gerade weil die Bildung von Humankapital als Resultat von unternehmerischen Investititionen in das Know-how der Arbeitskräfte einen fachwissenschaftlich etablierter Zusammenhang darstellt, bietet sich hier ein Exkurs zum Thema Sprachbewusstheit auch in der Wirtschaftspädagogik an.

Neben dem „Unwort“ publiziert die Sprachkritische Aktion auch weitere Begriffe, die in den Medien meistens keine Erwähnung finden. So wurde im Jahr 2003 der damals übliche Euphemismus der „Angebotsoptimierungen“ gerügt, der eine Einschränkung des Services von Dienstleistungsunternehmen aus Kostengründen beschönigte. Und 2004 schaffte es das umweltökonomische Instrument der „Luftverschmutzungsrechte“ auf den dritten Platz der Jury. Folglich spricht auch die Wissenschaft heute wieder lieber von „Emissionslizenzen“ - allerdings liegt hier aus umweltethischer Sicht wieder ein Fall von Fachchinesisch vor, der die Frage, ob der Mensch wirklich das Recht hat, die Umwelt zu verschmutzen, unreflektiert übergeht. Aber das tun ja auch unsere Filmhelden mit der „Lizenz zu töten“...

2008 fiel der Begriff der „notleidenden Banken“ unangenehm auf, denn er wurde moralisierend zur steuerfinanzierten Übernahme von geplatzten Bankkrediten verwendet (was in mehreren Fällen von Bankenvorständen sofort zur Erhöhung ihrer persönlichen Boni genutzt wurde).

 

In den letzten Jahren hat sich die Jury nur noch wenig mit ökonomischen Grundbegriffen auseinander gesetzt. Der mediale Boulevard sorgt bei der Darbietung von „Euro-Krise“, „Flüchtlingen“, „Terrorgefahr“ oder „Remigration“ auch so für genügend Anlass zur Sprachkritik.(21)  

 

Einseitige Perspektivbegriffe

 

In der Wirtschaft geht es fast immer um den Ausgleich unterschiedlicher Interessen. Daher verwendet jede Seite gerne eine Sprache, die ihre Argumente begünstigt. Begriffe können daher eine ideologische, politische oder sogar wissenschaftstheoretische Schlagseite enthalten, die oftmals überhaupt nicht mehr auffällt - vor allem wenn der Begriff in die Alltagssprache eingegangen ist.

 

Im Jahr 2013 benannte der Schriftsteller Ingo Schultze (als Gastmitglied der Jury der Sprachkritischen Aktion) das Begriffspaar „Arbeitnehmer/Arbeitgeber“ als sein persönliches Unwort. Seiner Begründung ist ökonomisch wie gesellschaftspolitisch nichts hinzuzufügen:


„Geht man von der grundlegenden Bedeutung von Arbeit als Leistung/Arbeitskraft aus, dann verkehrt das Wortpaar in dramatischer Weise die tatsächlichen Verhältnisse: Wer die Arbeit leistet, gibt, verkauft, wird zum Arbeitnehmer degradiert – wer sie nimmt, bezahlt und von ihr profitiert, zum Arbeitgeber erhoben. Die biblische Wendung „Geben ist seliger als Nehmen“ klingt bei diesem Begriffspaar unterschwellig immer mit. Aber auch wer den Begriff Arbeit in seiner abgeleiteten institutionellen Bedeutung als Arbeitsstelle begreift – Arbeitgeber als jene, die die Arbeitsstelle zur Verfügung stellen, also „Arbeitsplätze schaffen“ –, unterschlägt, dass diese Arbeitsstelle (sei es die Maschine, der Bürotisch oder die Computersoftware) ja auch erst durch Arbeit geschaffen werden musste. Diese sprachliche Perspektivierung, die für eine bestimmte Denkhaltung steht (z. B. dass es ohne Arbeitgeber keine Arbeit gebe) und diese als die gültige zementiert, wurde schon von Friedrich Engels und Karl Marx kritisiert.“(22)

 

Der Widerspruch sollte gerade im Zusammenhang mit dem neoklassischen Arbeitsmarktmodell auffallen, denn auch dort fungiert der Privathaushalt ja als Anbieter seiner Arbeitskraft und das Unternehmen als Nachfrager, was gerade im Falle junger Lernender Anlass für Verständnisprobleme mit sich bringt (ausführlicher im Kapitel Arbeitsmarkt).

 

 

Weitere Perspektivbegriffe:

 

  • Sozialbeiträge / Lohnnebenkosten: Während Beiträge zur Sozialversicherung aus Sicht der Angestellten den Lebensrisiken der Arbeitslosigkeit, Berufsunfähigkeit, Krankheit und Alter vorbeugen, stellen sie aus Sicht des Unternehmens einen Kostenfaktor dar, der zum Bruttolohn hinzutritt.
  • Kostensenkung / Einkommmeneinbußen: Eine betriebs- und volkswirtschaftliche Grunderkenntnis ist, dass Kosten des Unternehmens nichts anderes als Einkommen von Privathaushalten sind. Das Unternehmen, das Kosten reduziert, beschneidet irgendwo die finanziellen Möglichkeiten von Menschen. Dieser linguistische Wettlauf ist allerdings entschieden, Kostensenkung als erstrebenswertes Ziel ist gesellschaftlich voll anerkannt und wird nicht mehr hinterfragt. Allerdings offenbart sich hier die sozialdarwinistische Tradition, in der die Marktwirtschaft letztlich steht: Wer es schafft, (Arbeits-)Leistung für möglichst wenig Geldwert zu erlösen oder gar Privathaushalte vom Einkommensfluss abzuschneiden, wird am Markt reüssieren.
  • Marktwirtschaft / Kapitalismus: Hier sind wir im Bereich der Ideologie, über den schon Bibliotheken gefüllt worden sind. Im deutschen Sprachraum nutzen Anhänger der Marktordnung normalerweise  nur den Begriff der Marktwirtschaft, am liebsten im Zusammenhang mit dem Attribut sozial. Das Ludwig Erhard zugeschriebene Wirtschaftswunder im Deutschland der 50er und 60er Jahre erwarb der „Sozialen Marktwirtschaft den Ruf, Marktkonkurrenz und Gerechtigkeit gleichermaßen verwirklichen zu können. „Kapitalismus“ wird - zumindest im deutschen Sprachraum - zumeist aus gesellschaftskritischer Sicht benutzt. Dabei muss die Kritik heute nicht mehr marxistisch oder politisch-ökonomisch untermauert werden, sondern es gibt aus Reihen der globalisierungskritischen Bewegungen, von Sozialverbänden und Kirchen inzwischen eine ganz eigenständige Kapitalismuskritik. Mitunter wird der Begriff „Kapitalismus“ allerdings auch eingesetzt, um die Marktordnung als Naturgesetz festzulegen. Dazu lieferte die Wissenschaft auch die theoretische Fundierung durch die "Effizienzmarkthypothese", wonach der Markt immer gewinnt. Wer den Kapitalismus als Naturgesetz wahrnimmt, steht dann in Gefahr, sozialdarwinistische Verhaltensweisen für akzeptabel oder gar notwendig zu halten. (Die Problematik des Kapitalismusbegriffs liegt gerade in dieser Ideologisierung. Sowohl Vertreter*innen eines Kapitalismus als Naturgesetz als auch Kapitalismuskritiker*innen erachten das System als nicht reformierbar und letztere verfallen daher entweder in Resignation oder fordern wenig konstruktiv die „Abschaffung des Kapitalismus“.)
  • Zentralverwaltungswirtschaft / Planwirtschaft: „Planwirtschaft“ ist - zuminest im deutschen Sprachraum - heute das ideologische Gegenstück als politischer Kampfbegriff marktliberaler Gesellschaftsgruppen zum „Kapitalismus“-Vorwurf der Marktkritiker*innen. Meist verweisen Kritiker*innen auf vermeintliche oder reale Probleme der Wirtschaftsweise kommunistischer bzw. sozialistischer Staaten. Allerdings ist die Nutzung des Begriffs „Planwirtschaft“ nicht auf Marktliberale beschränkt, sondern auf Grund seiner Vorzüge gegenüber dem phonetisch unbequemen Begriff „Zentralverwaltungswirtschaft“ wird er auch in ideologisch neutralen Zusammenhängen genutzt. Zudem wurde in der DDR selbst der Begriff der „sozialistischen Planwirtschaft“ verwendet - der Plan galt dabei wohl als verlässlicher als Kapitalinteressen in der westlichen Hemisphäre. Heute besteht jedoch eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass das Publikum eher die Nachteile assoziiert.
    Einige Lehrbücher weisen inzwischen zurecht darauf hin, dass die Existenz eines Plans keinen trennscharfen Unterschied zur Marktwirtschaft darstellt. Denn auch in der Marktwirtschaft wird geplant und zwar von unzähligen Individuen und Unternehmen selbst. Der Unterschied liegt in der Planungsebene, denn in der Zentralverwaltungswirtschaft werden entscheidende Plandaten (Produktionsmengen, Preise, Löhne) von einer staatlichen Stelle zentral festgelegt, während dieselben Entscheidungen in einer Marktwirtschaft (zumindest zu einem gewissen Teil) von dezentralen Wirtschaftssubjekten getroffen werden. Darum sollte in der Wirtschaftsdidaktik auf dem Begriff der „Zentralverwaltungswirtschaft“ bestanden werden.

 

Containerbegriffe

 

Containerbegriffe repräsentieren Bereiche des Lebens, die sich durch eine hohe Komplexität auszeichnen. Oftmals handelt es sich um abstrakte Konzepte, die nur schwer zu definieren sind und von den Menschen jeweis anders verstanden werden können. Im persönlichen Bereich haben wir alle schon die Falltüren erlebt, die der Containerbegriff Liebe“ mit sich bringt. Liebe kann Romantik, Erregung, Vertrauen oder Sehnsucht mit sich bringen, daher ergeben sich daraus auch oft die größten Missverständnisse des Lebens.

 

Gerade Sozialwissenschaften wie die Wirtschaftswissenschaft müssen sich auch Containerbegriffen bedienen, die sie allerdings zu definieren suchen. In der wirtschaftswissenschaftlichen Publizistik, in den Medien und im Alltag werden Begriffe aber oftmals nicht so klar umrissen.

 

  • „Die Wirtschaft“: Was gut für „Die Wirtschaft“ ist, dient in er Regel dem Unternehmenserfolg. Mit dem Containerbegriff „Die Wirtschaft“ werden heute oftmals politische Forderungen untermauert, die vor allem den Kapital- und Vermögenseignern zu Gute kommen. „Die Wirtschaft“ verschleiert, dass hier eine angebotsseitige Wirtschaftsideologie im Vordergrund steht. Unterschwellig wird erwartet, dass eine Förderung „der Wirtschaft“, d.h. der Unternehmen, letztlich der gesamten Gesellschaft nützt. Dabei schwingt die Vorstellung eines nationalstaatlichen Bootes mit, an dessen Steigen alle partizipieren können. Übergangen wird mit dieser Verkürzung, dass das Marktsystem allgemeine Gerechtigkeitserwartungen nicht erfüllen kann. Dass Wirtschaften neben Gewinnern auch Verlierer produziert, wird von der Phrase „Die Wirtschaft“ ignoriert.
    Hinzu kommt, dass in den Medien oft gerade Vertreter/innen von Großkonzernen für
    „Die Wirtschaft“ sprechen. Unterschlagen wird dabei, dass es eine große Vielfalt höchst unterschiedlich konzipierter Unternehmen (Globaler Player, KMU, Gemeinwohlbetriebe, Sozialunternehmer/innen) mit höchst unterschiedlichen Zielsetzungen (Shareholder Value, Gewinnmaximierung, Gewinnerzielung, Kostendeckung) gibt. (Siehe hierzu den ausführlichen Artikel Das BIP ist nicht genug)
  • Produktivitätssteigerung: Der Begriff Produktivität ist wissenschaftlich klar umrissen als das Verhältnis des Outputs zu einem betrachteten Inputfaktor. Allerdings wird er in den allermeisten Fällen im Sinne einer spezifischen Produktivität ausgelegt, nämlich der Arbeitsproduktivität. Das hat mit dazu beigetragen, dass wir uns Wirtschaft gar nicht mehr anders vorstellen können, als dass sie die Arbeitsproduktivität steigert, d.h. mit Rationalisierungen im Sinne der Entlassung von Beschäftigten einhergeht. Dabei gerät aus dem Blick, dass die Steigerung der Arbeitsproduktivität durch politische Anreizsetzung geschieht und dass außerdem - gerade aus Sicht einer nachhaltigen Entwicklung - andere Produktivitäten gesteigert werden müssten, namentlich die Ressourcen- und die Energieproduktivität. (Dazu findet sich auf dieser Webseite eine eigene Unterrichtseinheit Produktivität).
Der ökonomische Fachbegriff der "Produktivität" und die alltägliche Benutzung des Begriffs "Katze" sind sich näher als man denkt.

 

Irrtümer verursacht durch die Wirtschaftsdidaktik

 

Der Hintergrund zu dieser Webseite liegt in der Tatsache, dass die Wirtschaftspädagogik dringend einer Aktualisierung bedarf, um mit Anforderungen des 21. Jahrhunderts - welche vor allem in der Nachhaltigkeit der Entwicklung besteht - Schritt halten zu können. Auch in den Unterrichtseinheiten zu den verschiedenen Themen klingt immer wieder an, dass gerade eine unklare oder missverständliche Begriffsbildung dafür verantwortlich sein könnte, weshalb sich bestimmte Sachfehler oder Fehlinterpretationen ökonomischer Modelle eingeschlichen haben.

 

  • „Freie Marktwirtschaft“/„Freier Markt“: Der Begriff für dieses Wirtschaftssystem ist stark wertend und zwar einseitig positiv. Man könnte - aus kritischer Perspektive - auch von der „ungezähmten Marktwirtschaft“ oder der „chaotischen Marktwirtschaft“ sprechen. Gerade die letzte Formulierung zeigt außerdem, dass die Bezeichnung „frei“ ohnehin auf einer Unsachlichkeit beruht. Denn auch in der „freien Marktwirtschaft“ existiert ein Staat, der bestimmte Regeln für den Handel festlegt, durchsetzt und ihre Nichteinhaltung ggf. durch Gerichte sanktioniert. Ein zu einhundert Prozent „freier“ Markt existiert also nicht, nicht einmal, wenn man die sogenannten „unregulierten“ Märkte betrachtet: illegale Märkte, Schwarzmärkte. Auch hier kann man nicht von „freien“ Märkten sprechen, denn es gibt praktisch immer (mitunter „mafiöse“) Machtstrukturen, die die von den bestehenden Hierarchien festgelegten Regeln nach ihrer Façon durchsetzen.
  • „Wirtschaftskreislauf“: Das ökonomische Grundlagenmodell stellt einen Kern schulischer Wirtschaftspädagogik dar. Gleichzeitig ist es die Basis der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR), mit deren Hilfe zentrale ökonomische Indikatoren wie das BIP berechnet werden. Problematisch an der Begriffswahl ist die vermittelte Vorstellung, Wirtschaft sei ein Kreislauf (vergleichbar mit natürlichen Kreisläufen). Neben der deterministischen Annahme, Wirtschaft sei nicht in Alternativen denkbar, ignoriert der Begriff die Abhängigkeit unserer Gesellschaft von Ressourcenentnahmen aus der Natur („Quelle“) und Abgabe von – oftmals nicht-naturverträglichen – Reststoffen in die Natur („Senke“). Der Problematik widmet sich daher auch eine vertiefte Darstellung im Unterrichtsthema Wirtschaftskreislauf. Das Modell müsste eigentlich „Geldkreislauf“ genannt werden, denn es sind lediglich monetäre Ströme, die in der Realität im Kreis zwischen den volkswirtschaftlichen Sektoren Privathaushalte, Unternehmen, Banken, Staat und Ausland zirkulieren. Der Terminus „Kreislaufwirtschaft“, der heutzutage als Alternativkonzept zur „Ex-und-Hopp Gesellschaft“ kursiert, hebt genau auf dem Umstand ab, dass unser Wirtschaftsmodell bis heute eben kein Wirtschaftskreislauf ist. Dabei unterstellt es jedoch ebenfalls, dass eine in vollständig geschlossenen Kreisläufen organisierte Wirtschaft prinzipiell möglich ist. Eine 100%ige Wiederverwertung von Reststoffen oder bedenkenlose Rückgabe in die Natur erhofft sich auch das Konzept des „Cradle-to-Cradle“. Der Beweis, dass dies realisierbar wäre, müsste jedoch praktisch noch erbracht werden.
  • „Magisches Viereck“: Die Zusammenstellung von vier, teilweise konfliktären wirtschaftspolitischen Zielsetzungen hat in Deutschland mittlerweile eine rund 50-jährige Tradition. Sie speist sich aus dem Stabilitätsgesetz von 1967, das die Wirtschaftspolitik auf die vier Ziele Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung, Außenhandelsgleichgewicht und Preisstabilität verpflichtet. Abgesehen von dem Umstand, dass in der praktischen Wirtschaftspolitik seither fast jede Regierung den Zielen Preisstabilität und Wirtschaftswachstum Vorrang gegeben und das Ziel des Außenhandelsgleichgewichts so gut wie nie eine Rolle gespielt hat, vermittelt der Begriff des „Magischen Vierecks“, dass es nur vier Ziele gibt. Dies ist im 21. Jahrhundert sowohl theoretisch wie praktisch nicht mehr zeitgemäß, denn die erfolgreiche Wirtschaftspolitikerin wird eine ganze Reihe weiterer – ökonomischer wie sonstiger interessensgebundener – Maximen befolgen (soziale Gerechtigkeit, ausgeglichene Staatshaushalte, aber auch Lobbyinteressen, Wahlkampftaktik, persönliche Vorteile). Wie ein Großteil der Lehrbuchtheorie unterstellt „Magische Viereck“ die selbstlosen Entscheiderin, die das gesellschaftliche Wohl an oberste Stelle setzt. Die Lehrbuchanalyse zeigt, dass es sich beim „magischen Viereck“ um eine bundesdeutsche Besonderheit handelt. Im Lehrbuch aus Österreich, wo es kein Stabilitätsgesetz gab, hat das „Magische Viereck“ in der Wirtschaftsdidaktik auch keinen Platz. (Mehr zu dieser Problematik findet sich auf der Seite „Magisches Viereck“.)
  • „Rezession“: Der Begriff leitet sich vom lateinischen recedere ab und bedeutet „zurückweichen, zurückgehen“. Diese Bedeutung wird auch in der Öffentlichkeit so verstanden. Dabei fragt sich jedoch, was genau „zurückgeht“. Laut Konjunkturtheorie (siehe dazu die Seite Konjunktur) geht jedoch lediglich das Wirtschaftswachstum zurück, wobei in der deutschen Nachkriegsgeschichte in 85% der „rezessiven Jahre“ immer noch positive Wachstumsraten vorlagen. Eine Rezession bedeutet nicht automatisch ein Stagnieren oder Schrumpfen der Wirtschaftsleistung. In den Medien wird jedoch immer wieder eine „Angst vor der Rezession“(23) beschworen, die Sorgen vor einer dauerhaften Wirtschaftskrise erzeugt (von dieser kann an sich nur gesprochen werden, wenn die Wachstumsraten dauerhaft unter null liegen). Implizit wird dabei unterstellt, dass es ein ewiges Wirtschaftswachstum geben kann (eine Problematik, der sich die Seite Wirtschaftswachstum näher widmet).

 

Missverständliche Begriffsbildung in der Öffentlichkeit

 

Des Weiteren haben sich Schlagworte, die sich in Wirtschaftspublizistik und öffentlichen Debatten etabliert haben, auch in der Wirtschaftspädagogik breit gemacht. Da Lehrkräfte wie Lernende solche Begriffe mit in den Wirtschaftsunterricht mitbringen, sollte hier ein besonderer Wert auf linguistische Klarstellung gelegt werden.

  • „Wirtschaft bzw. Konjunktur ankurbeln“: Die Phrase wird mit schöner Regelmäßigkeit vor allem in der Populärwissenschaft und in den Medien benutzt. Es finden sich jedoch auch Fundstellen in ökonomischen Lehrbüchern. Dahinter steht eine mechanistische Vorstellung einer „Wirtschaftsmaschine“, die vom Menschen nur sachgemäß bedient werden müsse, damit die Segnungen des (materiellen) Wohlstands entstehen. Des Weiteren verspricht sich die Öffentlichkeit von einer „Konjunkturankurbelung“ ein Plus an Arbeitsplätzen. Zum Problem wird dies, wenn Konjunktur und Beschäftigung gleichgesetzt werden, wodurch andere Maßnahmen der Arbeitsplatzschaffung aus dem Blickfeld geraten. Der Begriff hat sich mittlerweile so weit verbreitet, dass junge Lernende, die bereits dem medialen Trommelfeuer ausgesetzt sind, äußern, der Mensch müsse wirtschaften „um die Konjunktur anzukurbeln“. Hier deutet sich an, dass auch Sinnfragen in die Ökonomie hineinspielen: Arbeiten wir um zu leben oder leben wir um zu arbeiten (d.h. die Wirtschaft anzukurbeln)?
  • „Wohlstand und Wachstum“: Diese Alliteration ist ein typischer Wahlkampfslogan. Man findet ihn in fast jedem politischen Parteiprogramm. Dabei wird vermittelt, dass das gesellschaftliche Wohlstandsniveau nur zu halten bzw. auszubauen ist, wenn sich Wirtschaftswachstum einstellt, d.h. das BIP wächst. Damit widerspricht der Slogan kritischen Darstellungen in den meisten ökonomischen Lehrbüchern der letzten 40 Jahre, die auf die Zweifelhaftigkeit einer Gleichsetzung von BIP und Wohlstand hinweisen. Leider zeigt die Lehrbuchanalyse, dass volkswirtschaftliche Schulbücher sich hier allerdings oftmals selber widersprechen, denn in weiterführenden Darstellungen, vornehmlich zur Konjunkturpolitik, wird explizit oder implizit dennoch eine Gleichgerichtetheit von Wirtschaftswachstum und Wohlstand angenommen. (Zur begrenzten Aussagekraft der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) liegt auch eine vertiefte Darstellung in den Unterrichtsthemen vor.)

 

Unterschiedliche Begriffsbildungen in Fachwissenschaft und Alltagssprache

 

Schließlich sei noch auf Irrungen und Missverständnisse hingewiesen, die aus einem unterschiedlichen Gebrauch bestimmter Begriffe in der fachwissenschaftlichen Theorie und in Alltags- bzw. Umgangssprache herrühren.

  • „Kapital“: Der volkswirtschaftliche Produktionsfaktor Kapital umfasst alle vom Menschen herstellten Produktionsgüter, d.h. Ausrüstungen an Maschinen, Werkzeugen, Arbeitsmitteln sowie Fahrzeuge und Lagerbestände. Diesen entspricht in der Sache das Anlage- und (in Teilen) Umlaufvermögen der betriebswirtschaftlichen Rechnungslegung. Dort kennzeichnet das „Eigen- bzw. Fremdkapital“ lediglich die Art der Finanzierung der Vermögensgegenstände. Im Alltagsgebrauch dürften die meisten Menschen unter „Kapital“ insbesondere ein Synonym für „Geld“ verstehen. Geld ist jedoch explizit  gerade kein Kapital im volkswirtschaftlichen Sinne. Dort bezeichnet man es  allerdings als „Geldkapital“.
  • „Wirtschaft“: Bereits oben wurde ausgeführt, dass der Containerbegriff „Wirtschaft“ in der VWL etwas anderes bedeutet als im Alltag. In der volkswirtschaftlichen Theorie umfasst die Wirtschaft alle Aktivitäten von Unternehmen, Privathaushalten, Banken, dem Staat und dem Ausland, die mit der Gütererzeugung und –verteilung zu tun haben. Im Alltag hat sich unter dem Begriff der „Wirtschaft“ insbesondere ein anderes Wort für den Unternehmenssektor herausgebildet.

 

Um den Erkenntnisgegenstand der Ökonomik erfassen zu können, bedarf es – wie in jeder Fachwissenschaft - eines speziellen begrifflichen Instrumentariums. Die obigen Ausführungen zeigen jedoch, dass einige Fallstricke und Missverständnisse bereits in traditionellen Begrifflichkeiten liegen, andere werden durch populärwissenschaftliche Diskussionen in Politik, Medien und Öffentlichkeit erzeugt. Es  sollte eine wichtige Aufgabe des schulischen Wirtschaftsunterrichts sein, hier für konstruktive Aufklärung zu sorgen.

(1) Sahner, Simon/Stähr, Daniel: Die Sprache des Kapitalismus. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2024.

(2) Ebenda, S. 42ff.

(3) Ebenda, S. 32ff.

(4) Ebenda, S. 31.

(5) Ebenda, S. 54.

(6) Ebenda, S. 209.

(7) Ebenda, S. 162ff.

(8) Ebenda, S. 237ff.

(9) Lanchester, John: Die Sprache des Geldes - Und warum wir sie nicht verstehen (sollen). Klett-Cotta, Stuttgart 2015.

(10) Ebenda, S. 167.

(11) Ebenda, S.240.

(12) Ebenda, S.244.

(13) Ebenda, S. 248

(14) Ebenda, S. 266f

(15) Ebenda, S.  269

(16) Ebenda, S.  117

(17) Ebenda, S. 94

(18) Ebenda, S. Vgl. S.25

(19) Ebenda, S. S. 90

(20) Theodore W. Schultz: "Investment in human capital." In: American Economic Review, 51.1, 1961, S. 1-17.

(21) Vgl. Gürses, Hakan „‘Flüchtlingskrise‘: Wie Sprache unsere Welt formt.“ In: Der Standard Online, 18.4.2016. http://derstandard.at/2000034981638/Fluechtlingskrise-Wie-Sprache-unsere-Welt-formt

(22) http://www.unwortdesjahres.net/index.php?id=35

(23) http://www.welt.de/wirtschaft/article150487064/Angst-vor-US-Rezession-laehmt-die-Welt.html

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