Juli 2024
Seit fast 15 Jahren arbeite ich an meiner Webseite, um aus meiner Unterrichtspraxis Anregungen für eine nachhaltigere Wirtschaftspädagogik zu geben. Neben dem Angebot zahlreicher Unterrichtsunterlagen rezensiere ich auch immer wieder volkswirtschaftliche Lehrbücher im Hinblick auf eine nachhaltige Ökonomie. Inwiefern führen sie ein in den Grundgedanken einer „Nachhaltigen Entwicklung“? Welchen Stellenwert hat diese im Buch? Und insbesondere: Wie gelingt die systematische Einbindung der nachhaltigen Sichtweise in den volkswirtschaftlichen Lehrgegenstand? 2016 veröffentlichte ich zu dieser Fragestellung mit dem Düsseldorfer Agenda-Netzwerk die erste Schulbuchstudie dieser Art. Seither sind zahlreiche Neuerscheinungen und Neuauflagen älterer Lehrwerke auf den Markt gekommen. Was hat sich in Sachen nachhaltiges Wirtschaften im schulischen Lehrbuch seither getan? Ein Update.
Lehrbücher im Wirtschaftskunde-Unterricht sollten heutzutage nicht nur das Denken in wissenschaftlichen Modellen sowie das Verständnis für ökonomische Debatten fördern. Dieses langjährige Bildungsziel alleine wird den Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft nicht mehr gerecht. Schulbücher sollten ebenso Grundlagen vermitteln, die die sozial-ökologische Transformation nachvollziehbar machen und junge Menschen befähigen, daran aktiv mitzuarbeiten. So oder ähnlich steht es in vielen Bildungsprogrammen zur Gestaltungskompetenz im Rahmen einer „Bildung für nachhaltige Entwicklung“, die seit einigen Jahren zunehmend für schulische und akademische Curricula gefordert wird. Doch wenn BnE über die Umsetzung eines „nachhaltigen Lebensstils“ im eigenen Umfeld hinaus gehen soll, sind ökonomische Grundkenntnisse unabdingbar.
Nicht ganz zufällig zeigen gerade die aktuellen Kontroversen um Klimaschutz und Geopolitik, dass Nachhaltigkeit wieder in Gefahr steht, ein Thema für Sonntagsreden zu werden und in der Tagespolitik auf der Agenda weit nach hinten zu rücken. Die Dominanz der Ökonomie in gesellschaftspolitischen Diskussionen ist allumfassend. Argumente einer nachhaltigen Entwicklung werden nur dann gehört, wenn sie anschlussfähig an die Narrative erscheinen, die auf der ökonomischen Lehrbuchtheorie fußen – oder wenn es ihnen gelingt, diametral entgegenlaufende Narrative (wie zum Beispiel der Fiktion des ewigen Wachstums) erfolgreich zu hinterfragen. Die gesellschaftliche Spaltung in Kräfte, die eine sozial-ökologische Transformation befördern wollen, und solche, die in ihr den Untergang des westlichen Abendlandes sehen, hat auch mit einer progressiven oder traditionellen Sichtweise auf die Ökonomie zu tun. Grundlagen dafür werden in jedem Fall durch den schulischen Wirtschaftsunterricht gelegt.
Ignoranz und Greenwashing
Tatsächlich gibt es noch immer Neuerscheinungen von volkswirtschaftlichen Lehrwerken, die auf die Nachhaltigkeitsthematik verzichten. Im Lehrbuch „Volkswirtschaftslehre erleben – für die Fachhochschulreife NRW“ von Günter Füth (Westermann Verlag, 2019) findet sich genau eine(!) Nennung des Begriffs Nachhaltigkeit. Obwohl der Autor im Vorwort die Betrachtung von ökonomischen Entscheidungen „im Kontext von sozialökonomischen Zusammenhängen“ verspricht, umschifft er das seit bald 40 Jahren bestehende Paradigma der Nachhaltigen Entwicklung konsequent. Durch wirtschaftsethische Betrachtungen versucht er zwar, die (neo)klassischen Modelle und Theorien punktuell zu hinterfragen. Dennoch hinkt das Lehrwerk der Aktualität konzeptionell um mehrere Jahrzehnte hinterher.
Es besteht vermutlich ein grundsätzliches Problem auf Seiten von langjährigen Lehrbuchautor*innen wie Füth bzw. etablierten Lehrwerken, Nachhaltigkeit in die eigenen Gesamtdarstellung zentral zu integrieren. Das zeigt sich auch im Lehrbuch „Grundlagen der Volkswirtschaftslehre“ (Westermann Verlag, 2024) von Michael Howe, das nun in der 34. Auflage vorliegt. Howe hat das Lehrbuch als Herausgeber vom ursprünglichen Autorenpaar Horst Seidel und Rudolf Temmen übernommen. Eine umfassende Neukonzeption wäre für dieses Lehrwerk nach 45 Jahren sicher eine Mammutaufgabe gewesen. Stattdessen wurde es in den letzten Jahren um kleinere Abschnitte und Kommentare hinsichtlich Nachhaltigkeit oder Klimaschutz ergänzt. Insbesondere die neueste Auflage tut sich hervor mit eindringlichen Appellen im Lehrtext, in Richtung Nachhaltigkeit umzudenken und mehr Klimapolitik zu wagen. Zwar bot das Lehrwerk immer schon fundierte (umweltökonomische) Modellbetrachtungen zum Marktversagen oder externen Effekten. Ansonsten hat sich aber an der Dominanz von traditionellen Lehrbuchdarstellungen nicht das Mindeste geändert. Noch immer verharrt die Gesamtdarstellung im Wachstumsdenken und der pauschalen Überlegenheit von Marktlösungen gegenüber staatlicher Regulierung. Nachhaltigkeit wird dabei lediglich als Add-on zum bestehenden VWL-Kanon begriffen. Somit steht den sicher gut gemeinten, aber eher moralisierenden Kommentaren zur Nachhaltigkeitsproblematik die gelehrte ökonomische Fachtheorie diametral entgegen. Wenn das Vorwort und sogar die Werbeflyer des Verlags dennoch eine umfassende Überarbeitung im Sinne der Nachhaltigkeit ankündigen, so muss man von einem ausgeprägten Fall des Greenwashings sprechen, das nach der Konsumgüterindustrie als Trend nun auch den Lehrbuchmarkt erfasst hat.
Der nachhaltige Aufbruch ist möglich…
Gleichzeitig gibt es immer mehr mutmachende Publikationen wie zum Beispiel die Neuauflage des Lehrbuchs „Grundlagen der Volkswirtschaftslehre“ von Volker Brettschneider und Dorothe Redeker (2021) aus dem Cornelsen Verlag. Die Verfasser/innen beheben recht überzeugend einen Mangel, den ich in unserer Düsseldorfer Schulbuchstudie als gravierend beklagt hatte: zentrale Begrifflichkeiten aus Nachhaltigkeitswissenschaften wie Kreislaufwirtschaft, ökologische Rucksäcke oder auch Suffizienzstrategie werden nun erstmals im schulischen VWL-Buch aufgegriffen. Auf 30 Seiten werden außerdem umfassend die zeithistorische Hintergründe der ökologischen Debatte der letzten 50 Jahre dargestellt. Ein Wermutstropfen ist, dass die Darstellung erst im letzten Kapitel des Buches erfolgt und damit die zentrale Perspektive der Nachhaltigkeit zu spät in den Fokus rückt. Außerdem wurde (zugunsten ökologischer Themen) insbesondere das Kapitel zur Sozialpolitik stark gekürzt, so dass der Nachhaltigen Entwicklung die Betrachtung der sozialen Dimension abhanden kommt. Dafür sind ökologische Bezüge (so etwa die Fridays for Future-Bewegung) im ganzen Lehrbuch anzutreffen, so dass der konzeptionelle Panzer der traditionellen Ökonomik aufgebrochen wird und der Brückenschlag zur Nachhaltigkeitswissenschaft gelingt.
Von einem konsistenten nachhaltigen Ansatz ist das Lehrbuch aber nicht nur wegen der nachgelagerten Aufbereitung der Nachhaltigen Entwicklung am Buchende ein gutes Stück entfernt. Weiterhin existiert kein Lehrbuch, dass den Grenzen des Wachstums gerecht wird, indem diese auch in den Ausführungen zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik beachtet werden. Der Wirtschaftswachstum als Selbstverständlichkeit und als wirtschaftspolitisches Ziel gilt weiter als sakrosankt und damit stellt sich kritischen Lernenden die Frage, wie Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung erreicht werden sollen, wenn gleichzeitig die unverminderte Expansion des Wirtschaftssystems postuliert wird.
Noch fokussierter ist das Themenheft „Ökologie & Ökonomie“ (2020) auf die Beziehungen zwischen den titelgebenden Sphären. Erschienen ist es von der Autorin Katharina Röll-Berge im Wochenschau Verlag, der seit Jahren erfolgreich curriculare Nischenangebote macht. Auf 68 Seiten nähert es sich der Nachhaltigkeitsthematik anhand von Basistexten auf der Höhe der gesellschaftspolitischen Diskussion. Viele Nachhaltigkeitsbegriffe, die in sonstigen Lehrbüchern fehlen, stehen hier im Mittelpunkt. Schwerpunkte sind dabei der Klimawandel und die Postwachstums-/Degrowth-Debatte. Daher eignet sich die Publikation insbesondere für alle Lehrpersonen, die sich jenseits verstaubter Inhalte etablierter Wirtschaftslehrbücher mit aktuellen bzw. zukunftsorientierten Nachhaltigkeitsfragen auch im Unterricht auseinandersetzen wollen. Die Materialien lassen sich punktuell zum volkswirtschaftlichen Lerngegenstand ergänzen. Zu beachten ist, dass es sich nicht um ein umfassendes VWL-Lehrbuch handelt, denn zahlreiche ökonomische Theorien und Modelle, die in den meisten Bildungsplänen enthalten sind, werden hier gänzlich ausgespart. Der Wochenschau Verlag hat dazu teilweise weitere Themenhefte (Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik) herausgebracht. Leider mangelt es diesen an einer dezidierten Nachhaltigkeitsperspektive.
… hängt aber fest in ideologischen Narrativen und festgefahrenen Curricula
Die langjährige Beschäftigung mit Trends und den ideologischen Grundlagen von volkswirtschaftlichen Lehrwerken führt auch zu Überraschungen. Im Lehrbuch „Volkswirtschaft – kompetenzorientiert und praxisnah“ (Merkur Verlag, 2019) ist es dem Autorenpaar Eberhard Boller und Dietmar Schuster gelungen, von dem extrem neoliberalen Ton ihrer früheren Lehrbücher zu einer (beinahe) sozioökonomischen Betrachtung von Wirtschaft überzuwechseln. Nachhaltigkeit hat nun einen festen Platz in ihrer Darstellung – wenn auch (wieder einmal) erst im letzten Fünftel des 608 Seiten starken Lehrbuchs. Was in Kenntnis früherer Lehrwerke wie ein Quantensprung wirkt, stellt sich in der Sache aber nur als sehr begrenzter Fortschritt dar. Denn die Voreingenommenheit zugunsten von Marktlösungen gegenüber staatlicher Regulierung zieht sich weiterhin durch das gesamte Lehrbuch. Und selbst wenn dem Homo Oeconomicus diverse alternative Handlungsmaximen gegenüber gestellt werden, so fußen alle nachgelagerten Theorien schlussendlich doch wieder auf dem ökonomischen Modellmenschen. Von einer konsistenten Integration der Nachhaltigkeitsperspektive kann keine Rede sein.
Ein Stück weit in Schutz muss man die Lehrwerksverfasserinnen und -verfasser nehmen, wenn ihre Versuche, das Paradigma der Nachhaltigen Entwicklung in ihre Sachdarstellungen und Aufgabenstellungen zu übernehmen, auf halbem Wege stehen bleiben. Denn mit Ausnahme der Nischenanbieter streben die großen Schulbuchverlage die Kompatibilität mit konkreten schulischen Bildungsplänen der Bundesländer an. Oder die Lehrwerkskonzeption ist insbesondere wissenschaftspropädeutisch, d. h. es werden Grundlagen für akademische Lehrgegenstände gelegt. Dies bedeutet, um ein wirklich umfassendes und konsistentes schulisches VWL-Buch mit Nachhaltigkeitskompetenz zu verlegen, müssten die Lehrplankommissionen und wissenschaftlichen Lehrstühle einen Konsens finden, Themen einer zukunftsfähigen Ökonomie in den Mittelpunkt zu stellen. Außerdem müssten Lehrgegenstände, die aus der Zeit gefallen oder mit Nachhaltigkeit schlichtweg inkompatibel sind, gestrichen oder wenigstens durch die Gegenüberstellung einer nachhaltigen Alternativtheorie zur Diskussion gestellt werden. Tatsächlich vermitteln viele Lehrwerke aber eher den Eindruck, dass es sich bei der Volkswirtschaftslehre um eine naturwissenschaftlich-exakte Beschreibung von ökonomischen Wahrheiten handelt. Die zugrundeliegenden Wertegrundlagen werden weiterhin zu spärlich reflektiert und damit der philosophisch-gesellschaftswissenschaftliche Ursprung der Wissenschaft kaschiert.
Fazit
Genauere Analysen von aktuellen Publikationen im volkswirtschaftlichen Schulbuchmarkt zeigen eine große Bandbreite, was den Stellenwert der Nachhaltigen Entwicklung angeht. Obwohl sich die meisten Verfasser*innen inzwischen mehr Mühe geben, zukunftsgerichtetes Wirtschaften im Blick zu behalten, ist es nie wirklich zentral. Wie im Konsumartikelbereich muss man daher auch auf dem Lehrbuchmarkt aufpassen: Wo „Nachhaltigkeit“ drauf steht, ist noch lange keine „Nachhaltigkeit“ drin.
Die ausführlichen Rezensionen der hier erwähnten Lehrwerke sowie zahlreiche weitere Besprechungen von volkswirtschaftlichen Schulbüchern finden sich hier.