„Gut gemacht, Ben!“ Ob ein Wirtschaftslehrer vor rund 40 Jahren mit einem solchen Lob die Leidenschaft des jungen Ben Bernanke für die Ökonomie geweckt hat? Nicht auszuschließen, dass der heutige Chef der „Fed“, der US-Zentralbank, sich nach Platzen der Immobilienblase 2008 an seine Antwort zur „Kreditschöpfung“ im Schulunterricht erinnerte und lehrbuchmäßige Entscheidungen zur Belebung der US-Konjunktur treffen wollte. Doch wenn wirklichkeitsfremde Theorien für reale Politikempfehlungen herangezogen werden, gerät die Realwirtschaft in Probleme...
Einer der ehernen Stützpfeiler der Marktwirtschaft ist die Zentralbank. Gerade die Europäische Zentralbank pflegt gerne den Mythos der politischen Unabhängigkeit. Öffentlichkeit und wirtschaftliche Akteure sollen sich auf die Zentralbank als Hüter des Geldwertes verlassen dürfen. Und es gibt gute Gründe, dass ein solches Vertrauen in das Geldsystem für die Marktwirtschaft grundlegend ist.
Zum Problem wird dieses Vertrauen, wenn die geldpolitischen Entscheidungsträger von ihrer eigenen Weisheit geblendet sind und ihren Einfluss überschätzen – weil ihre wirtschaftstheoretische Grundlage zweifelhaft ist.
In keinem VWL-Lehrbuch fehlt das scheinbar geniale System der Geld- und Kreditschöpfung durch die Geschäftsbanken. Denn nur ein Bruchteil des „Giralgeldes“, der Einlagen der Sparer bei Banken, muss in barem Zentralbankgeld vorgehalten werden, da die Sparer in normalen Zeiten nur einen Bruchteil ihres Guthabens in bar abheben. Der Rest kann von den Banken zur Kreditschöpfung verwendet werden – lediglich reduziert um die sogenannte Mindestreserve, die zur „Sicherung der Liquidität“ je nach Höhe der Kreditvergabe bei der Zentralbank hinterlegt werden muss. Abhängig von Mindestreservesatz sowie Sparquote der Haushalte können demnach die Geschäftsbanken ein Vielfaches des ursprünglich von der Zentralbank bereitgestellten Zentralbankgeldes als Kredit an Investoren vergeben. Und doch bleibt laut Theorie die Geldmenge unter „exogener“ Kontrolle der Zentralbank: Sollten gesamtwirtschaftliche Gründe für eine Einschränkung der Geldmenge sprechen, so brauche die Zentralbank lediglich den Mindestreservesatz zu erhöhen, und schon seien den Geschäftsbanken die Hände gebunden. Umgekehrt sollte eine Ausweitung des Zentralbankgeldes für die Banken die Kreditvergabe steigern und als Konjunkturspritze für die Realwirtschaft fungieren.
In der gerade erschienenen Neuauflage seines Buches „Debunking Economics“ legt der australische Ökonomie-Häretiker Steve Keen den empirischen Finger in die Wunde theoretischen Wunschdenkens. Denn in Wirklichkeit funktioniert die Kreditschöpfung so nicht. In der Tat können Geschäftsbanken durch Verleihung von Giralgeld das Geld- und Kreditvolumen ausweiten, doch die Begrenzung nach oben mittels Mindestreservesatz hat de-facto keine Bedeutung. Entweder besorgen sich die Geschäftsbanken das Zentralbankgeld am Finanzmarkt. Aber selbst wenn dies nicht möglich ist, kann das Kreditvolumen praktisch ad-ultimo (bis zum Platzen der Blase) ausgedehnt werden. Denn eine Geschäftsbank vergibt in der Praxis Kredite nach Gutdünken und hat entsprechende Anreize, auch wenn der Verschuldungsgrad der Gesamtwirtschaft in bedenkliche Höhen gestiegen ist. So geschehen vor der Weltfinanzkrise. Das liegt unter anderem daran, dass die Geschäftsbank erst im Nachhinein die verlangte Mindestreserve anlegen muss, d.h. sie vergibt den Privatkredit unabhängig davon, ob sie die zu hinterlegende Mindestreserve verfügbar hat. Erst nach Vergabe des Kredites muss sie für die Mindestreserve sorgen – und die Praxis zeigt, dass ihr die Zentralbank notfalls frisches Zentralbankgeld für die Mindestreserve zur Verfügung stellt, wenn die Geschäftsbank dieses nicht anderweitig auftreiben kann (d.h. die Zentralbank verhält sich genauso wie die Geschäftsbanken; wenn ein Kunde Geldnot hat, gibt sie Kredit). Sie sollte dies auch tun, denn sonst müsste der Privatkredit ja widerrufen werden und dies hätte eine Kreditklemme mit den unangenehmen Folgen für die Realwirtschaft zur Folge. Zur Rechtfertigung mag man anführen, dass die Federal Reserve (ähnlich wie nun auch die EZB) Maßnahmen zur Stützung des Bankensystems trifft. Doch direkte Auswirkungen auf die Kreditvergabe gemäß Theorie des Geldschöpfungsmultiplikators sind Glückssache. Auch die Empirie zeigt, dass nicht die Zentralbank die Geldmenge kontrolliert, sondern die Geschäftsbanken durch ihre Kreditvergabe die Zentralbank zur Bereitstellung des erforderlichen Zentralbankgeldes „nötigen“. Von „Kontrolle” mittels Mindestreservepolitik kann daher keine Rede sein.
Volkswirtschaftliche Lehrbücher an deutschen Schulen haben davon noch nichts mitbekommen. Die EZB versucht daher auch erfolgreicher mittels Leitzinsen Einfluss auf das Gebaren der Geschäftsbanken zu nehmen. Dabei beobachtet Keen, dass Mainstream-Ökonomen immer wieder mal die Grenzen ihrer Modelle einräumen, um sie am Ende doch zu ignorieren. So schreibt Lothar Funk in seinem Buch „Makroökonomik”, dass der Geldschöpfungsmultiplikator in der Praxis lediglich „ex-post-Charakter” hat – eine Verbrämung des Eingeständnisses, dass er zur Begrenzung der Kreditvergabe nicht taugt. Am Ende der dreiseitigen Theoriekritik kommt er – oh Wunder – doch zu dem lapidaren Ergebnis, dass man „aus Gründen einer übersichtlichen Darstellung an der Annahme eines exogenen Geldangebots festhalten” wolle. Anders gesagt: Untaugliche Modelle stellen für die Mainstream-Ökonomie keinen Anlass dar, sie zu verwerfen.
Schlechte Theorie bringt mehr als nur realitätsferne Wissenschaftsdebatten hervor. Weil Ben Bernanke an der Lehrbuch-Idee von Kreditschöpfung festhielt, verdoppelte(!) er 2008 das Zentralbankgeld und schüttete es an die US-Banken aus und nicht – wie von alternativen Wissenschaftlern gefordert – an die Haushalte oder Unternehmen direkt. Die US-Präsident Obama und der Öffentlichkeit versprochene Belebung der US-Konjunktur blieb aus: Das Geld versickerte im Geschäftsbankensektor und führte nicht zu der beabsichtigten Stützung der Realwirtschaft.