Juni 2018
Pädagoginnen und Pädagogen – viele von uns begreifen sich als Weltverbesserer. Und wer könnte widersprechen, dass es eine ehrenvolle Aufgabe sein kann, Kindern und Jugendlichen das Schreiben zu beizubringen oder dabei behilflich zu sein, ihren Platz in der Welt zu finden? Und wenn wir ihnen die Augen öffnen für das Leid unserer Mitmenschen in armen Ländern, dann müsste diese Welt doch bald ein besserer Ort werden…
Seit Jahrzehnten treten viele Lehrerinnen und Lehrer mit hehren Absichten in den Schuldienst und investieren unzählige Vorbereitungsstunden zu Themen wie „Hunger der Welt“, „globale Arbeitsbedingungen in der Textilbranche“ oder „Rohstoffknappheit“. In den letzten Jahren haben sich immer mehr Initiativen, Netzwerke zum Globalen Lernen und zur Bildung für nachhaltige Entwicklung gegründet. Auch das Internet bietet neue Möglichkeiten, globale Gerechtigkeits- und Zukunftsfragen zum Unterrichtsgespräch zu machen. Und schienen unsere Schülerinnen und Schüler nicht auch überzeugt zu sein, dass wir alle gemeinsam an den anstehenden Zukunftsaufgaben arbeiten müssen?
Seltsamerweise erleben wir zeitgleich einen Aufstieg rechter und nationalpopulistischer Parteien in fast allen Demokratien. Die Zustimmung zur (einseitigen) Schließung von Grenzen wächst, und obwohl kaum noch eine Flüchtende den Weg in nord- und mitteleuropäische Asylunterkünfte schafft, feiern ausländerfeindliche Parteien einen Wahlerfolg nach dem anderen. Haben wir als Pädagoginnen und Pädagogen versagt, wenn unsere (ehemaligen) Adepten nun doch rechten Demagoginnen und Demagogen auf den Leim gehen?
Die beunruhigende Antwort lautet: Es könnte sein. Es könnte sein, dass unsere wohlmeinenden Unterrichtsstunden zu globalen Themen gerade nicht den Effekt haben, dass junge Menschen ihre Empathie für unterjochte Arbeiterinnen in Schwellenländern entdecken und anfangen sich sozial zu engagieren. Wissen ist mit Sicherheit Voraussetzung für Handeln, aber wer sagt uns eigentlich, dass Menschen genauso handeln, wie es vielfach sozial und ökologisch bewegte Lehrerinnen und Lehrer beabsichtigten?
Könnte es sein, dass die Erkenntnis, dass sich das Klima wandelt, dass die Weltbevölkerung mit unverminderter Geschwindigkeit wächst und ihre Ansprüche auf den „westlichen“ Lebensstil anmeldet, nicht zu konstruktiver Lösungssuche und Forschergeist führt, innovative und nachhaltige Geschäftsideen zu entwickeln oder sich als aufgeklärter biofairer Verbraucher zu verwirklichen?
Die Gesellschaft steht vor dem Problem, dass Individuen und soziale Milieus höchst unterschiedliche Antworten auf die globalen Herausforderungen entwickeln. Eine neue Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung weist darauf hin, dass sich die Wählerschaft rechter Parteien vor allem durch ihre persönlichen Zukunftsängste von der Klientel anderer Parteien unterscheidet.(1) Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass mediale, aber auch unterrichtliche Diskussionen um Globalisierung oder Ressourcenknappheiten in der Gefahr stehen, solche Ängste noch zu verstärken. Eine empirische Forschung über emotionale Wirkungen sowie individuelle Verhaltensänderungen durch BNE und Globales Lernen gibt es nicht (und ist auf Grund der komplexen Zusammenhänge vermutlich auch nur schwerlich zu leisten - Aktualisierung 2023: Eine Studie der PH Freiburg hat sich dieser Frage nun gewidmet und wirft ein zweifelhaftes Licht auf die praktizierte BNE an Schulen). Aber wenn die eigene Kompetenzzuschreibung, das soziale Umfeld oder die aktuelle Lebenssituation wenig Raum für gesellschaftspolitisches Engagement lassen, werden Heranwachsende möglicherweise auf einfachere Lösungen wie Abschottung und Ausgrenzung setzen, wenn sich gefühlte „Ströme von Armen“ auf den Weg in Richtung Europa machen. Hinzu kommt der Einfluss von Medien, die in der Überzeichnung von Tatsachen eine Chance auf publizistisches Gehör sehen. Und so werden aus den „ausgebeuteten Textilarbeitern“ der Schulzeit in der Wahrnehmung späterer Erwerbstätiger irgendwann „Wirtschaftsflüchtlinge“. Und die „Grenzen des Wachstums“, die man als junger Mensch zu achten gedachte, werden schnell zum Angstszenario, wenn der indische Softwareentwickler, über dessen Entkommen aus dem Slum man sich vielleicht wirklich einmal gefreut hatte, auf einmal zum persönlichen Konkurrenten wird. Schließlich leben wir in einer Gesellschaft, deren Markttheorie letztlich eine Form des Sozialdarwinismus predigt und die individuelle Selbstverwirklichung oder schlicht das „Überleben in der Leistungsgesellschaft“ zu den letzten akzeptierten Weltanschauungen werden lässt. Die seit 35 Jahren „neoliberal“ geprägte Politik tut ein Übriges, dass sich Bürgerinnen und Bürger trotz jährlicher Produktionsrekorde gezwungen sehen, die Ellenbogen auszufahren um sozial Anschluss zu halten. Und auch die allgegenwärtige Werbeindustrie gibt andere Antworten, als es eine kritische Verbraucherbildung im Schulunterricht im Sinn hatte.
So gesehen müssen sich Aktive im Globalen Lernen und der BNE eingestehen, dass ihr Wirken nur begrenzten Einfluss auf die (späteren) Werthaltungen ihrer Lernenden hat. Gute Bildung ersetzt auch keine gute Umwelt-, Wirtschafts- und Sozialpolitik. Doch eine Kritik müssen sich Nachhaltigkeitsbildnerinnen und -bildner unter Umständen gefallen lassen: Wenn der Akzent auf globalen Problemen verbleibt und zukunftsfähige Lösungen zu wenig Raum bekommen, wachsen Ohnmachtsgefühle (nicht nur) junger Menschen. Schon der neoliberal dominierte Globalisierungsdiskurs versetzt die Gesellschaft immer weiter in Angst und Schrecken, wenn er permanent auf Standortkonkurrenz und der aufziehenden Kluft zwischen „Globalisierungsgewinnern“ und „Globalisierungsverlierern“ herumreitet. Wenn die Bildung hier keine klügeren Antworten zu bieten hat, täte man womöglich besser daran, die Fülle globaler Bedrohungsszenarien auszuklammern? Es bestünde ja eine ernste Gefahr, dass sich Menschen früher oder später von den simplen und menschenverachtenden Parolen rechter Hetzer einfangen lassen...
Der Verzicht auf Themen des Globalen Lernens ist keine Option. Die Schulzeit ist eine der wenigen Chancen, um mit allen heranwachsenden Mitgliedern der Gesellschaft über sozio-ökonomische Alternativen ins Gespräch zu kommen. Den Finger in die Wunde nicht geglückter Aktivitäten zu BNE und Globalem Lernen legt jedoch in jüngster Zeit ein wissenschaftlicher Diskurs um die „transformative Bildung“, der der praktizierten Bildung für nachhaltige Entwicklung attestiert, zahnlos geworden zu sein. Insbesondere im staatlich administrierten Schulsystem sei BNE nur anschlussfähig, wenn kritisch-emanzipatorische Bildungsziele oder auch Macht- und Systemanalysen aufgegeben würden.(2)
So wichtig und richtig die geäußerte Kritik ist, die Schaffung eines Fachbegriffs der „transformativen Bildung“ als zusätzliches Label neben den bereits konkurrierenden der „BNE“ und des „Globalen Lernens“ ist angesichts der weiterhin unzureichenden Verbreitung entsprechender Bildungsaktivitäten ambivalent. Wenn die ursprünglichen Intentionen der älteren Konzepte richtig umgesetzt würden, wären auch BNE und Globales Lernen im besten Sinne „transformativ“. Umsetzungsdefizite ergeben sich ja in der Praxis jeder pädagogischen Theorie. Mit der Werbesprache gesagt: Entscheidend ist nicht, was drauf steht, sondern was drin ist. Hier ist es vermutlich der didaktische Mut von Bildungsakteuren, gesellschaftspolitische Verhältnisse und emotionale Aspekte von Debatten um globale Probleme mit in den Blick zu nehmen.
Gute Beispiele gibt es auch heute schon zahlreich. Das Projekt „Schokofair – Stoppt Kinderarbeit!“ der Düsseldorfer Montessori-Haupt- & Gesamtschule belässt es seit Jahren nicht bei der Bewerbung ökofairer Produkte und die Erziehung zum kritischen Naschen, sondern benennt Ross und Reiter des Welthandelssystems. Das Projekt sucht dazu beständig den Kontakt zur Politik und bekannten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie Inka Bause oder Wolfgang Niedecken. Lehrkräfte leben ihren Schülerinnen und Schülern das gesellschaftliche Engagement praktisch vor und zeigen Kindern, dass man keine Scheu haben sollte, auch mit Parlamentariern zu diskutieren und politische Forderungen zu stellen.
Unterrichtsprojekte zum Fairen Handel und dem globalen Gerechtigkeitsgefälle leiden mitunter unter der Problematik, dass sie die inländischen Arbeits- und Einkommensverhältnisse unbeachtet lassen und somit zu deren Zementierung beitragen. Bei der Diskussion um weltweite Armut und Ausbeutung von Arbeiterinnen und Arbeitern in „Entwicklungsländern“ klingt die unterschwellige Botschaft durch, dass sich in Europa ja keiner beschweren könne. Hier könnte ein Grund liegen, weshalb (intellektuell-bildungsbürgerliche) Globalisierungskritik bei jungen Lernenden aus prekären Verhältnissen seit Jahren nicht verfängt: Wenn die Sonnenseite des Lebens bereits in jungen Jahren persönlich unerreichbar scheint, warum sollten sich Jugendliche für Fragen der Gerechtigkeit in fernen Landen interessieren? Das neue Unterrichtsmaterial „Gute Arbeit“ von EPiZ Berlin versucht daher, die Arbeitnehmerrechte sowohl in der globalen Textilindustrie als auch in Deutschland in einem Unterrichtsprojekt gemeinsam zu behandeln. Auszubildende sollen erkennen, dass ihre eigene Arbeits- und Lebenswelt von den gleichen gesamtgesellschaftlichen Diskursen und Strukturen geprägt ist wie die der Menschen in anderen Ländern.
Des Weiteren helfen Bildungsansätze, die die gefühlte Abhängigkeit von Technik und „Der Globalisierung“ reduzieren. Das Trommelfeuer der Medien vermittelt uns täglich, dass wir individuell und gesamtgesellschaftlich dem Weltmarkt hilflos ausgeliefert sind und Deutschland schnell am Ende wäre, wenn wir nicht den Titel des „Exportweltmeisters“ erringen. Scheitern jedoch die eigenen Kochkünste tatsächlich schon am Rührei, verdanken junge Menschen ihr Abendbrot wirklich nur noch der Fast-Food-Kette um die Ecke und dem Smartphone, das sie zur nächsten Fertigpizza beim Discounter führt. Hier helfen handwerkliche Projekte zum Upcycling, schulische Reparaturwerkstätten oder das Engagement im schulischen Landbau, wie es die erfolgreiche Gemüseackerdemie anbietet. Der bekannte Postwachstumsökonom Niko Paech erwartet für eine wachstumslose Gesellschaft ohnehin nur noch eine wöchentliche Erwerbsarbeitszeit von 20 Stunden - die übrige Zeit würden die Menschen in Eigenarbeit sowie im Ehrenamt und politischen Engagement verbringen.(3) Dann sollte Zukunftsbildung nicht mehr ausschließlich für den Arbeitsmarkt vorbereiten, sondern verstärkt auch Alltagskompetenzen vermitteln. Wenn junge Menschen im Stande gesetzt werden, ganz praktisch etwas für ihr „Überleben“ in der Konkurrenzgesellschaft zu tun, sinkt hoffentlich ihre gefühlte Abhängigkeit vom Erwerbsjob und vom kollektiven Zwang, permanent „Die Wirtschaft anzukurbeln“. Das pädagogische Ziel der Selbstwirksamkeit scheint ein entscheidendes Erfolgskriterium zu sein, damit Wissen tatsächlich zum Handeln im nachhaltigen Sinne wird und nicht einfach Abhilfe in den Floskeln rechter Parteien, einflussreicher Lobbygruppen oder der Boulevardmedien gesucht wird.
Apropos Floskeln. Dagegen würde sich auch der Wert einer nachhaltigen Wirtschaftsbildung im Sinne dieser Webseite erweisen. Unsere Gesellschaft steht weltanschaulich unter dem Diktat der Wirtschaftsdaten wie dem Bruttoinlandsprodukt sowie dem Einfluss von Phrasen wie dem vermeintlich allbeglückenden Freihandel. Diese Paradigmen können erst dann erfolgreich überwunden werden, wenn in der Gesellschaft das begriffliche und konzeptionelle Handwerkszeug vorhanden ist und so ökonomische Zusammenhänge leichter durchschaut werden. Das bedeutet, dass die aktuellen Bestrebungen der Bildungspolitik, mehr wirtschaftliche Inhalte allgemein verbindlich zu machen, durchaus eine Chance darstellen. Allerdings nur, wenn der Akzent auf der Nachhaltigkeit liegt, wie es das Konzeptwerk Neue Ökonomie oder die Initiative BiWiNa fordern. Wird nämlich – und die Gefahr besteht durchaus – die neoliberale Mainstreamtheorie nun auch im allgemein bildenden Bereich fortgeschrieben, so dürfte ein Umsteuern unserer Gesellschaft in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung auf Jahrzehnte Utopie bleiben.
Garantien für Bildungserfolge gibt es keine. Doch liegt durchaus eine Menge Verantwortung bei Bildungsaktiven. Das ist für Pädagoginnen und Pägagogen mit Weltverbesserungsabsichten auch eine gute Nachricht.
______________________________________________________________________________________
(1) Vgl. Decker, Markus: "Wähler der AfD ticken ganz anders als die der Union." In: Frankfurter Rundschau vom 25.5.2018. http://www.fr.de/politik/afd-waehler-der-afd-ticken-ganz-anders-als-die-der-union-a-1511942
(2)Vgl. Singer-Brodowski, Mandy: Transformative Bildung durch transformatives Lernen. Zur Notwendigkeit der erziehungswissenschaftlichen Fundierung einer neuen Idee. In: Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik, 39 (2016) 1, S. 13-17. Url: https://www.waxmann.com/index.php?eID=download&id_artikel=ART101945&uid=frei
(3) Vgl. "Paech: 'Wir
sollten nur 20 Stunden arbeiten'". Deutsche Welle vom 5.2.2018.
http://www.dw.com/de/paech-wir-sollten-nur-20-stunden-arbeiten/a-42402498