Nachhaltige Entwicklung im volkswirtschaftlichen Unterricht
Nachhaltige Entwicklungim volkswirtschaftlichen Unterricht

Die „konjunkturbesessene“ Gesellschaft

November 2018

 

Immer öfter heißt es, unsere Gesellschaft sei „wachstumsfixiert“. Aber das trifft nicht den Punkt. Unsere Medien sind nicht wachstumsfixiert. Sie sind „konjunkturbesessen“. Wann, bitte schön, kommen die „SDGs vor acht“?

 

Mitte November 2018. Die deutsche Wirtschaftspresse ist in heller Aufruhr. Was ist passiert? Das Statistische Bundesamt im Wiesbaden vermeldet den ersten quartalsweisen Rückgang des Bruttoinlandsproduktes seit dreieinhalb Jahren. Von Juli bis September hat das BIP tatsächlich um 0,2% gegenüber der Produktionsleistung im vorherigen Quartal (von April bis Juni) nachgelassen. Die Schuldigen sind schnell ausgemacht: Die deutsche Automobilindustrie habe mit der technischen Umstellung auf den neuen Abgasstandard zu kämpfen. Und dann wäre da noch ein böser Tramp jenseits des Ozeans, der der deutschen Exportwirtschaft die Erfolge neidet…

 

Keine Wirtschaftsredaktion, die die Meldung nicht in aller Ausführlichkeit diskutieren und kommentieren würde. Besonders einfallsreich ist das Wording jedoch nicht: Unisono titeln Focus, Spiegel, Tagesschau, Welt, Handelsblatt, Süddeutsche und viele Regionalzeitungen: „Deutsche Wirtschaft schrumpft“. Der Reflex der Wirtschaftspolitik lässt nicht lange auf sich warten, Minister Altmaier verspricht den deutschen Unternehmen neue Steuersenkungen.

 

Doch wo ist das Problem, ist es nicht die Aufgabe von Wirtschaftsmedien über die derzeitige Wirtschaftslage zu informieren? Haben wir nicht das Recht, allabendlich vor der Tagesschau auf den neuesten Stand der Börsenkurse gebracht zu werden? Dem Internet sei Dank können wir aktuelle Wirtschaftsdaten fast schon in Echtzeit verfolgen. Sich der allgegenwärtigen Diskussion um die Konjunktur zu entziehen, ist nahezu unmöglich. Denn auch wenn die Wachstumsraten ausnahmsweise mal nicht kurz ins mathematische Minus rutschen, berichten uns Print-, Funk- und digitale Medien fast täglich über immer neue Konjunkturprognosen im Dezimalstellenbereich.  

 

Das Problem der öffentlichen Obsession mit Konjunkturdaten: Das Ringen um eine kurzfristige Steigerung des BIP wird auf dem Rücken der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft ausgetragen. Langfristige Ziele aus dem Bereich der Nachhaltigkeit geraten in der Berichterstattung im wahrsten Sinne des Wortes ins Hintertreffen auf Seite 47. Und: Was als kurzfristiges Mittel zur Konjunkturankurbelung sinnvoll sein kann, hat allzu oft zweifelhafte Auswirkungen auf Ökologie und Soziales. Dabei ist die Entscheidung für das BIP als Hauptindikator für das gesellschaftliche Wohlergehen eine gesellschaftliche. Dass es auch anders geht, zeigt der Himalaya-Staat Bhutan, der an Stelle des BIP ein sozial und ökologisch ausgewogeneres „Bruttonationalglück“ berechnet. Wann kommen endlich die „SDGs vor acht“? 

 

Nicht dass das Bruttoinlandsprodukt keine Existenzberechtigung hätte: Für die die geldpolitischen Expertinnen und Experten der EZB ist das BIP ein wichtiger Parameter zu Bestimmung der richtigen Geldmenge. Doch wem nutzt die permanente Diskussion um „Aufschwung“ und „Abschwung“ in der Öffentlichkeit? Thomas Plaßmann, hierzulande einer der geistreichsten politischen Karikaturisten, nimmt den Subtext der typischen Konjunkturdebatte trefflich auf’s Korn: (1)

Denn selbst bei den rosarotesten Konjunkturdaten der einschlägigen Wirtschaftsforschungsinstitute drohen doch zumeist wieder dunkelgraue Wolken am Horizont: Der statistische Höhenflug des BIP werde im neuen Jahr - auf Grund „unkalkulierbarer Risiken der Weltwirtschaft“ - ja ganz sicher nicht anhalten können. Hinzu kommt, dass mangelhafte Mathematikkenntnisse nahezu der gesamten Öffentlichkeit dazu führen, dass die geringe Höhe heutiger Wachstumsraten zu dem Gefühl einer krisenhaften Volkswirtschaft beiträgt - und in China kam es 2015 um ein Haar wirklich dazu, dass das Umfallen eines Sacks Reis globale Verwerfungen nach sich gezogen hätte.

 

Ansonsten führt die Dominanz des „Mammon“ BIP in allen Wirtschaftsmedien dazu, dass die Kommerzialisierung der Welt und Ausverkauf der Natur in immer größere Höhen geschraubt wird. Denn nur Leistungen, die monetär über den Ladentisch laufen, bestätigen der Wirtschaftspolitik ihren Erfolg und garantieren der Wirtschaftspolitikerin ihre Chancen auf Wiederwahl. Notfalls helfen auch mal Statistiktricks, um die Zahlen künstlich nach oben zu treiben: Da auch Drogenhandel, Schwarzmarktaktivitäten und käufliche Liebesdienste im BIP inzwischen ganz gleichberechtigte Wirtschaftsleistungen darstellen, stellt sich die – vom Statistikamt unbeantwortete – Frage, ob vielleicht auch ganz andere Branchen in der Sommerhitze 2018 „geschwächelt“ haben…

 

Doch ist es zu einfach, mit dem Finger allein auf eine unkritische und die schnelle Schlagzeile bedachte Wirtschaftspresse zu zeigen. Denn wir alle verhindern durch unsere permanenten Bezüge zum BIP, dass sich langfristige Wirtschaftsbetrachtungen durchsetzen. Gewerkschaften und Sozialpolitiker*innen nutzen ja ebenfalls jeden Ausschlag des BIP nach oben, um sogleich finanzielle Spielräume in den Tarifverhandlungen einzufordern. Entwicklungsinitiativen verbitten sich Wachstumskritik im Falle von Schwellen- und Entwicklungsländern. Klimaschützer*innen verweisen auf die potentiellen Wachstumseffekte von Klimaschutzmaßnahmen (und ordnen ihre Argumentation so dem höheren Ziel des Wirtschaftswachstums unter). Selbst ausgewiesene Postwachstumsanhänger sprechen dennoch von der „Stärke der deutschen Volkswirtschaft“, wobei sie auf eben der Grundlage argumentieren, die sie eigentlich ablehnen. Und in Wirtschaftswissenschaften und schulischer Wirtschaftsdidaktik nehmen Konjunkturtheorien einen so breiten Raum ein, dass es kaum verwunderlich ist, dass die Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) bis heute in kaum einem Lehrbuch oder Bildungsplan Eingang gefunden haben. Wieso nennen wir eine Wirtschaft „florierend“, in der prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Altersarmut seit Jahren auf dem Vormarsch sind? 

 

In letzter Zeit ist viel die Rede von den sogenannten „Fake News“. Nur, sind diese wirklich das Problem? Wie viele Fake News sind Ihnen heute begegnet? Oder doch eher „irrelevant news“? In Zeiten der Informationsflut kommen die Leitmedien oft nicht genügend ihrer Filterfunktion nach, wichtige von unwichtigen Nachrichten zu trennen. Ob das BIP im letzten Quartal um 0,2 Prozentpunkte gestiegen oder gefallen ist, ist selbst für Unternehmensentscheider, die in ihrer Branche mit ganz spezifischen Auftragslagen zu tun haben, eher „irrelevant news“. Fast alle Presseartikel der letzten Wochen räumten ein, dass die sommerlichen Softwareprobleme der Automobilbranche eher ein singuläres Ereignis waren und das deutsche BIP im sonst üblichen Einjahresvergleich (zum gleichen Zeitraum 2017) auch im dritten Quartal 2018 um 1,1% angestiegen sei.

 

Und dann steht ja nun endlich auch das Weihnachtsgeschäft vor der Tür. Wir können uns schon mal auf euphorische Konjunkturartikel im Januar freuen – selbstverständlich nicht ohne neue Besorgnis darüber, dass so ein Konjunkturhoch nicht ewig dauern kann.

 

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(1) Quelle: https://bloeser.blogspot.com/2010/02/die-losung-lohnzuruckhaltung.html

Veröffentlicht in Frankfurter Rundschau vom 9.1.2007.

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