November 2015
Innovationen in der Telekommunikation. Fortschritt in der medizinischen Forschung. Neue Technologien in Industrie und Landwirtschaft. Die Wissensgesellschaft hat in den letzten Jahrzehnten ungeahnte Veränderungen unserer Produktion und unseres Lebensstils ausgelöst. Nicht alle sind zu begrüßen, aber wer wollte das Rad der Zeit einfach zurückdrehen? Doch es gibt einen Bereich der Gesellschaft, der sich seit geraumer Zeit mit aller Macht dagegen stemmt, sich auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts einzustellen: die Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Wird nicht auch alljährlich ein Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften vergeben? Gibt es denn keinen Erkenntnisgewinn der Ökonomie? Natürlich gibt es den. Doch ungeachtet der Verwertbarkeit hochabstrakter ökonomischer Modelle und Theorien für die praktische Wirtschaftspolitik, die Damen und Herren Merkel, Gabriel oder Schäuble orientieren sich ohnehin nur an den Leitsätzen, die an deutschen Handels- und Wirtschaftsschulen seit Jahrzehnten von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt jedem Erkenntnisfortschritt widerstehen. Selbst wenn die Wissenschaft Fragen wie den Klimawandel oder Armut in den Blick nimmt, in den Parlamenten und Talkshows der Republik argumentieren auch andere gesellschaftliche Wortführer vorwiegend auf dem Niveau des Wirtschaftsunterrichts Klassenstufe 12, Vorschläge zur Lösung der Euro-Krise werden praktisch 1:1 aus volkswirtschaftlichen Schulbüchern übernommen. Mit anderen Worten: Mitentscheidend für die politische Praxis ist nicht nur der wissenschaftliche State-of-the-Art, sondern vor allem dessen Substrat, das den Weg in die schulischen Lehrbücher und darüber in das Vorstellungsvermögen der politischen Öffentlichkeit schafft. Der erfolgreiche Politiker schaut dem Volk „aufs Maul“ und nur was dem Wahlvolk vermittelbar ist, wird in Zeiten der Mediendemokratie umgesetzt.
Wie sieht es da mit dem Bekanntheitsgrad nachhaltiger Gesellschaftsentwürfe aus? Da BILD & Co. nicht unbedingt als Vermittler in Fragen der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft wirken, stellt sich mit Blick auf eine gesellschaftliche Transformation die Frage: Schafft das die Schule? Konkret: Finden sich z.B. in schulischen Lehrbüchern auch Erläuterungen der entscheidenden Problemstellungen, Begrifflichkeiten und Lösungsansätze, die jungen Menschen gestatten, Diskussionen um mögliche Wege zur Nachhaltigkeit mitzugestalten bzw. nachverfolgen zu können?
In der ersten Schulbuchstudie zum Thema standen neun gängige VWL-Lehrbücher aus Deutschland, Österreich und der Schweiz auf dem Prüfstand. Im Mittelpunkt stand die Analyse von Sachtexten, Illustrationen und Aufgabenapparaten: Kommt die Thematik der Nachhaltigen Entwicklung überhaupt vor? Wie erschöpfend und konsistent werden ökonomische Modelle in Hinblick auf Nachhaltigkeit erweitert?
Oberflächlich betrachtet ist Nachhaltigkeit als Begriff in den allermeisten volkswirtschaftlichen Lehrwerken angekommen. Dabei lässt sich beobachten, dass es vom Jahr der Erstauflage des Lehrbuchs abhängig ist, wie ausführlich Nachhaltigkeit beleuchtet wird. Viele Lehrbücher erscheinen über 10-30 Jahre in immer wieder überarbeiteten Auflagen, gerade die älteren tun sich jedoch schwer, die neue, themenübergreifende Thematik in die bestehende Struktur einzuarbeiten. Dort werden dann in der Regel neue Kapitel zum „Brundtland-Bericht“ oder den „Limits to Growth“ eingefügt. Auf den übrigen Lehrbuchseiten sucht man Bezüge zur Nachhaltigkeitsdebatte dann vergebens.
Dennoch ist es nicht so, dass Lehrbuchneuerscheinungen hier entscheidende Vorteile hätten: Auch wenn der Nachhaltigkeitsdiskussion dort zumeist mehr Raum eingeräumt wird, die Darstellung erfolgt in höchstem Maße inkonsistent mit der traditionellen Lehrbuchökonomie. Ist es verwunderlich, dass in der politischen Fernsehrunde ausschließlich Vertreter/innen entweder der angebots- oder der nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik zu Worte kommen? In kaum einem Lehrwerk finden etwa die „Ökosteuer“ oder die Finanztransaktionssteuer überhaupt nur Erwähnung. Schulverlagen und Lehrbuchverfassern fehlt eindeutig der Mut, Elemente einer progressiven, nachhaltigen Wirtschaftstheorie in ihre Systematik aufzunehmen. Dass ihnen der Mangel durchaus bewusst ist, zeigen des Öfteren Arbeitsaufträge in den Aufgabenapparaten: Diese regen Lernende zu Internet-Recherchen zu alternativen Sichtweisen an. Leider bieten Lehrbücher in der Regel keine systematisierten Grundlagen, daher dürfte der Erfolg solcher Übungen bescheiden ausfallen.
Was hingegen einmal im Schulbuch steht, reproduziert sich dort über Jahrzehnte ungestört weiter: Wenn neue Lehrpläne geschrieben werden, orientieren sich deren Verfasser stark an der bestehenden Lehrbuchsystematik. Und Schulbuchverlage wiederum versuchen mit ihren Publikationen möglichst exakt den Lehrplanvorgaben zu entsprechen – einmal verlegt, bringen die Autor/innen dann Jahr für Jahr minimal veränderte Neuauflagen heraus, denen es zunehmend an Innovationskraft mangelt. Da auch aus dem Bereich der akademischen Wirtschaftswissenschaft ökonomische Grundlagenmodelle kaum hinterfragt werden, fehlen Impulse, die die schulische Wirtschaftspädagogik positiv beeinflussen könnten. So bleibt zukunftsgerichteter Erkenntnisfortschritt auf der Strecke. Das beste Beispiel für eine solche curriculare „Endlosschleife“ ist das Modell des „Magischen Vierecks“ des Stabilitätsgesetzes von 1967(!), das bis heute in jedem bundesdeutschen VWL-Lehrbuch seinen zentralen Platz hat, obwohl es in der politischen Praxis schon lange keine Rolle mehr spielt (und z.B. im untersuchten österreichischen Lehrbuch auch unbekannt ist).
Es ist nicht so, dass Lehrbuchautor/innen nicht bemüht sind, Anschluss an aktuelle gesellschaftliche Debatten zu halten. Das Thema der Globalisierung wird bereits ausgesprochen ausführlich in volkswirtschaftlichen Schulbüchern abgehandelt. Allerdings dominiert die Darstellung der Probleme, zu deren Lösung nur sehr dürftige Vorschläge gemacht werden. Da an volkswirtschaftlicher Schulbuchliteratur ausschließlich Volkswirte und Wirtschaftspädagogen mitwirken, mag es menschlich nachvollziehbar sein, dass die in den letzten Jahren in kritischen Medien geäußerte Grundsatzkritik an Mainstreamökonomen von diesen nicht immer nur sachlich verarbeitet wird. Manche Lehrbuchautoren scheinen Sachkritik derart persönlich zu nehmen, dass sie teils in einen beleidigten Unterton verfallen oder Grundsatzkritik am Wachstumsparadigma als „überzogen“ und höchstens „in 100 Jahren relevant“ verwerfen, um ihre traditionelle Lehrbuchdarstellung nicht in Frage stellen zu müssen. Speziell das Paradigma der Nachhaltigkeit beinhaltet ja implizit eine Anklage an die bestehenden Modelle, nicht zukunftstauglich zu sein. Daher verwundert es nicht, dass auch Schulbuchautor/innen mit traditioneller akademischer Ausbildung mitunter nur zögerlich zur Innovation bereit sind. Obwohl sie die Grenzen ökonomischer Modelle heutzutage wesentlich bereitwilliger eingestehen, entsteht der Eindruck „pharmazeutischer Beipackzettel“, die im weiteren Verlauf der Lehrbuchdarstellung nicht mehr aufgegriffen werden. Den Homo Oeconomicus als fragwürdig zu kritisieren, gehört inzwischen zum guten Ton einer vermeintlich aufgeklärten Lehrbuchdidaktik. Dass die neoklassischen Marktmodelle der späteren Kapitel letzten Endes doch wieder den rationalen Modellmenschen adeln, wird geflissentlich übersehen.
An keinem untersuchten Lehrbuch haben Nachhaltigkeitswissenschaftler mitgearbeitet. Als Resultat herrscht absolute Fehlanzeige an einschlägiger Fachterminologie wie Ressourcenproduktivität, Ökoeffizienz, Suffizienz, Kreislaufwirtschaft, Postwachstumsökonomie oder Entkopplung von Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum. Diese für die nachhaltige Gesellschaft so elementaren Begriffe und Diskussionen finden in volkswirtschaftlichen Schulbüchern schlicht nicht statt. Darum bleibt es auch in Kapiteln zur Nachhaltigkeit bei der Problembeschreibung, welche junge Lernende ratlos zurück lässt, wie offenkundige Widersprüche zwischen den ökologischen Wachstumsgrenzen und dem Ziel des Wirtschaftswachstums zur Beschäftigungssicherung gelöst werden sollen.
Am deutlichsten wird dies am Beispiel der Konjunkturpolitik. Noch immer stellt dieses Thema das Herz der wirtschaftspolitischen Lehrbuchdarstellung dar und bereitet damit den Boden für politische Debatten, die sich fast ausschließlich um die Steigerung von Wachstumskennziffern im Dezimalbereich drehen, obwohl jeder klar denkende Mensch erkennt, dass dieses Ziel auf mittlere Sicht in die ökologische, soziale und kulturelle Erschöpfung führen muss. Selbst wenn im Lehrbuch an anderer Stelle Wachstumskritik geübt wurde, im Zusammenhang mit Konjunkturtheorien wird wie selbstverständlich vom Normalfall des steigenden Bruttoinlandsprodukts ausgegangen und das Ausbleiben desselben undifferenziert als Wirtschaftskrise bezeichnet, die durch geeignete wirtschaftspolitische Maßnahmen zu überwinden sei. Hier zeigt sich, dass es mit kosmetischen Korrekturen an bestehenden Lehrplänen nicht getan ist und auch die akademische Wirtschaftslehre eine klare Kurskorrektur vornehmen muss.
Doch nicht jede Innovation führt in die richtige Richtung. Im Rahmen der sogenannten „kompetenzorientierten“ Pädagogik wurden Lehrpläne in Nordrhein-Westfalen einer grundlegenden Überarbeitung unterzogen, die sich sofort in eilig erstellten Lehrbüchern niederschlug. Die Ausrichtung am neuen „Leitfach“ Betriebswirtschaftslehre hat dort dazu geführt, dass Themen wie Umweltpolitik oder eine Gegenüberstellung von Wirtschaftssystemen ersatzlos aus den volkswirtschaftlichen Lehrplänen gestrichen worden sind. Wie den hehren Nachhaltigkeitszielen im Lehrplanvorwort dann Genüge getan werden soll, bleibt ein Rätsel. Dass es anders geht, zeigt die Schweiz, wo der neue Lehrplan21 für die deutschsprachigen Kantone zum ersten Mal minutiöse Vorgaben macht, an welchen Stellen des Lehrplans das Thema Nachhaltigkeit explizit beachtet werden muss. Warum hat sich in Deutschland allein Baden-Württemberg auf einen ähnlichen Weg der Lehrplanüberarbeitung gemacht? Andere Bundesländer hängen hier oftmals Jahre zurück.
Leider ist auch ökologisch denkenden Politiker/innen nicht immer klar, wie wichtig Bildung für nachhaltige Entwicklung – vor allem in der Wirtschaftspädagogik – ist. Dass sich nachhaltigkeitsorientierte Wirtschaftspolitik in der Öffentlichkeit schwer tut Mehrheiten zu finden, hat auch mit ihrer kompletten Vernachlässigung in deutschsprachigen Lehrbüchern zu tun. Zwar wurden Ökosteuern oder Emissionslizenzen schon einmal aus der Wissenschaft direkt in die politische Praxis übertragen. Aber kaum eine Bürgerin oder ein Bürger versteht, was es damit auf sich hat, weil der schulische Ökonomieunterricht praktisch nicht darauf eingeht. Politik über die Köpfe der Menschen hinweg ist in der Demokratie aber zum Scheitern verurteilt. Können wir uns das in Frage der nachhaltigen Entwicklung leisten?