August 2025
Das Nachhaltigkeitsprojekt ist ins Stocken geraten. Politisch wie gesellschaftlich sind inzwischen wieder marktliberale Ideen en vogue. Die Ursachen liegen nicht
zuletzt in der weiterhin unangefochtenen Stellung nicht-nachhaltiger Wirtschaftskonzepte. Damit Bildung transformativ wird, braucht es daher fundiertere Systemkritik. Mit anderen Worten: eine
wirtschaftliche Bildung für nachhaltige Entwicklung.
Wie wird Bildung transformativ? Zurecht betonen Vertreter*innen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung immer wieder den fächer- und schulübergreifenden Ansatz. Bildung wird ganzheitlich, handlungsorientiert und gesellschaftsverändernd verstanden. Gleichzeitig findet in der BNE aktuell ein Shift weg von der reinen Problembeschreibung („Ökologischer Fußabdruck“) hin zu mehr Lösungskompetenz statt („Handabdruck“). Diese bildungstheoretisch gut begründete Entwicklungen könnten aber in der Praxis den Fokus weg von Systemkritik rücken, welche Grundlage der nachhaltigen Transformation sein müsste und in ihrer didaktischen Form die Ideen der BNE bitter nötig hat: die Wirtschaftslehre.
Wie sieht es aus mit Systemkritik der Wirtschaftswissenschaften in der BNE? Einfach nur „gegen den Kapitalismus“ zu sein, wäre ja etwas billig... Um einen Überblick zu gewinnen, nutze ich das Portal Globales Lernen, die wohl ergiebigste Plattform für Lehrmaterialien unterschiedlichster Initiativen der BNE. Knapp 3300 Bildungsangebote (Stand August 2025) finden sich dort und hoffen auf innovationsfreudige Pädagog*innen in schulischer und außerschulischer Bildung. Da ich mich als solcher begreife, suche ich nach meinem Unterrichtsfach Volkswirtschaft und finde sage und schreibe sechs Vorschläge: ein YouTube-Video, ein Buch zur Postwachstumsökonomie von Niko Paech sowie drei Materialien zur Entwicklungspolitik. Gerade mal 7 Resultate finde ich zum Thema „Umweltpolitik“. Etwas erfolgreicher ist meine Recherche, wenn ich nach ergänzenden Materialien zum „Wachstum“ suche. 118 Treffer zeigen, dass die Anbieter von ergänzendem Lehrmaterial eine der nicht-nachhaltigen Schwachstellen der herrschenden Wirtschaftslehre identifiziert haben. Zum Thema „Kreislaufwirtschaft“ wirft die Suchmaske 20 Treffer aus, darunter einige ausgezeichnete Publikationen von Südwind, dem Inkota-Netzwerk, EPiZ Berlin und aus der Schweiz von éducation21. Bei anderen Materialien fällt allerdings auf, dass Kreislaufwirtschaft auch nur ein Suchbegriff unter Dutzenden des betreffenden Materials ist und keineswegs im Mittelpunkt steht. Auch sonst zeigt sich, dass außerschulische BNE-Anbieter*innen wirtschaftsbezogene Materialien eher rund um etablierte BNE-Themen wie Fairen Handel und die SDGs entwickelt haben. Viele Angebote wollen Lernenden konkrete Handlungsalternativen in ihrem persönlichen Umfeld aufzeigen: Nachhaltigkeitslabels regen zur bewussteren Konsumentscheidung an, Schulprojekte sollen primär handlungs- und lösungsorientiert gedacht werden und vegetarische Gerichte in der Schulmensa initiieren. Ganz klar, der Fokus liegt vor allem auf der ökologischen Nachhaltigkeit und globalen Themen. Unterrichtsangebote zur sozialen und ökonomischen Nachhaltigkeit hingegen sind rar. Keinen einzigen Treffer ergibt die Suche nach „Staatsfinanzen“. „Staatsverschuldung“ ergibt 12 Treffer. Dabei thematisieren die angebotenen Unterrichtsmaterialien oder Veranstaltungen ausschließlich das Problem in Entwicklungsländern und hinterfragen dabei nicht die etablierten ökonomischen Theorien, die auch für den Globalen Norden von großer Bedeutung sind. Zur „Sozialpolitik“ erhalte ich lediglich ein einziges Arbeitsblatt zu „Berufschancen von Migrant*innen“. Wenn also das Wirtschaftssystem in der BNE anvisiert wird, so handelt es sich meist um isolierte, von der Klima- oder Degrowth-Bewegung diskutierte Aspekte der Ökonomie, nicht aber um eine Wirtschaftslehre, die umfassend und konsistent auf den Weg zur Nachhaltigkeit geführt wird.
Es stellt sich damit die Frage, wie anschlussfähig BNE - mit ihren einschlägigen ökologischen Schwerpunkten - derzeit in der Mehrheitsgesellschaft ist. Nachdem sich die Euphorie um die Jugendbewegung „Fridays for Future“ gelegt hat und die Hoffnung auf eine klimapolitisch geeinte Welt verflogen ist, wird die aktuelle gesellschaftliche Lage geprägt von einer sich vertiefenden Spaltung der Lager, die sich nicht mehr auf Augenhöhe begegnen wollen. Wenn nun im klassischen Sinne „mehr BNE“ gefordert wird, so ist das einerseits nachvollziehbar. Denn noch immer sind grundlegende systemische Zusammenhänge von Ökologie, Sozialem und Ökonomie zu wenig Bestandteil der allgemeinen und beruflichen Bildung. Doch andererseits geht die Forderung nach „mehr BNE vom selben“ auch ein Stück weit an den aktuellen Trends vorbei. Regierungen wenden sich vermehrt von der gemeinwohlorientierten Diplomatie ab und schmieden geopolitisch motivierte Militär- und Handelsbündnisse gegeneinander. Auch in Deutschland wird wieder aufgerüstet (teils mit der Begründung, die „Konjunktur ankurbeln“ zu wollen) und das Sozialsystem unter Druck gesetzt. Als einzige Reformidee zur „Rettung der Rente“ wird wieder einmal die Verlängerung der Lebensarbeitszeit diskutiert. Und ein gewisser Herr Trump sorgt dafür, dass Zölle als Mittel der Außenhandelspolitik endgültig unmöglich gemacht werden. Alles Themen, die ganz auf Linie der verbreiteten Mainstream-Ökonomie liegen...
Gleichzeitig malen rechtskonservative und marktlibertäre Strömungen Untergangsszenarien der deutschen Wirtschaft und Kultur an die Wand und belegen ihre Argumentation ebenfalls mit marktliberalen Schlagworten und Narrativen. Das Kuriose: Ihre Sorgen um die (statistisch belegbare, aber vielfach falsch interpretierte) „Wachstumsschwäche“ und die „Schuldenbremse“ zur Vorkehr gegen die „Belastung künftiger Generationen“ werden vom SDG 8 genau so formuliert.(1) Dennoch lehnen anti-etatistische Medien und ihre Follower die Agenda2030 ab und hofieren den Protektionismus des Herrn Trump.
Das zeigt Zweierlei: Gesellschaftliche Debatten verlaufen im höchsten Maße irrational – und die Dominanz neoliberaler Narrative in der Öffentlichkeit ist nach 40 Jahren medialer und wissenschaftlicher Indoktrination ungebrochen. Ihr Einfluss auch auf Nachhaltigkeitsdiskurse, die ungewollt marktliberale Doktrinen stützen, wird auch von der BNE nicht genügend erkannt und diskutiert. Der Vorwurf, wohlfeile Luftschlösser bauen zu wollen, wird Klima- und Umweltbewegten von Protagonist*innen aus der Wirtschaftswissenschaft ja immer wieder gemacht. Und so scheitert nachhaltigkeitsorientierte Politik nicht nur an mangelnder Begründung und Vermittlung ihrer eigenen positiven Zukunftsvision, sondern vor allem daran, dass sie ökonomische Zusammenhänge nicht beachtet, aber auch die vermeintlichen Wohlstandsversprechungen neoliberaler Wachstums- und Austeritätspolitik nicht ausreichend entlarvt.
Wozu es einer stärkeren Beschäftigung mit der ökonomischen Theorie und daraus abgeleiteter Narrative bedürfte - doch der Ruf nach „mehr Wirtschaftsbildung“, wie er seit Längerem insbesondere von Initiativen der Finanzbranche erklingt, wird die gesellschaftlichen Wogen nicht glätten, sondern steht in Gefahr, eine monolithische neoliberale Wirtschaftsideologie noch zu vertiefen. Gerade die Wirtschaftspädagogik benötigt dringend eine substantielle Überarbeitung im Sinne der Nachhaltigen Entwicklung.
Denn obwohl sowohl Curricula als auch Lehrwerke seit unserer Schulbuchstudie in den letzten Jahren punktuell aktualisiert wurden und Nachhaltigkeit als Thematik inzwischen fast immer zu finden ist, so leidet die Umsetzung in schulischen Lehrwerken weiterhin an zwei Dingen:
Meine These ist, dass es einer wirtschaftlichen Bildung für nachhaltige Entwicklung (wBNE) bedarf, sie sich verstärkt mit der (herrschenden und nachhaltigen) Wirtschaftstheorie beschäftigt. Ohne diesen klaren Fokus steht BNE in Gefahr, zu oft an den aktuellen gesellschaftlichen Konfliktlinien vorbei zu unterrichten und die Durchsetzung nachhaltiger Ziele zu behindern, indem sie konkurrierende (neoliberale) Narrative nicht genügend aufarbeitet. Gleichzeitig benötigt die Wirtschaftspädagogik mehr Mut, sich mit Wegen zu einer nachhaltiger Wirtschaft zu befassen und entsprechend auch Abschied von veralteten Konzepten zu nehmen. Hier sind die Ideen einer BNE (mit Fokus Handabdruck) sehr willkommen (z. B. die Förderung nachhaltiger Startups, besseres Verständnis der wirtschafts- und finanzpolitischen Programme von Parteien und Einordnung von Argumenten aus medialen Debatten).
Mittelfristig führt kein Weg vorbei an vollständig überarbeiteten Curricula und Lehrbüchern, die nachhaltiges Wirtschaften konsequent neu denken. Ein sehr gelungener Versuch wird aktuell von der Projektgruppe Regenerative Economics unternommen. Der bereits vorliegende Syllabus und die passenden Unterrichtsvorschläge zeigen, dass Wirtschaftspädagogik und BNE problemlos das fernöstliche Harmonieideal von Yin und Yang erfüllen könnten. Gesucht werden nun Lehrplankommissionen, die sich von solchen Ideen inspirieren lassen.
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(1) www.2030watch.de/sdg-8-schuldenstand sowie www.2030agenda.de/de/article/weltweite-staatsverschuldung-auf-rekordhoch-neuer-schuldenreport-der-vereinten-nationen
Die Indikatoren von 2030watch beziehen sich auf die Maastricht-Kriterien. Diese waren bei ihrer Niederlegung jedoch von monetaristischer Wirtschaftstheorie durchdrungen, die von heterodoxen Ökonomen kritisch hinterfragt werden.
(2) Eine erfreuliche Neupublikation wurde kürzlich von der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht: Goldschmidt, Nils et al.: Perspektiven pluraler Ökonomik in der politischen Bildung. www.bpb.de/shop/materialien/themen-und-materialien/549528/wirtschaft-plural/