Nachhaltige Entwicklung im volkswirtschaftlichen Unterricht
Nachhaltige Entwicklungim volkswirtschaftlichen Unterricht

Wir steigern kein Bruttosozialprodukt! –   Der neoliberale Hintergrund des BIP

Mai 2024

 

Mit ihrem Gassenhauer Anfang der 80er Jahre machte sich die Bochumer Band Geier Sturzflug unsterblich. Jedenfalls im Unterricht zahlloser VWL-Schulstunden dürfte das Lied alle Jahre wieder erklingen. Zu genial war die ironisch-musikalische Umsetzung der Kritik am Wirtschaftsmaß Nummer Eins gelungen. Doch könnte es sein, dass der Erfolg des Lieds in vielen Radiostationen und Fernsehsendern bis in diese Zeit verhindert, dass sich die Öffentlichkeit der neoliberalen Wende der 90er und 2000er Jahre auch in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung bewusst wird...

Es gibt kein Bruttosozialprodukt mehr. Und das Bruttoinlandsprodukt ist eines ganz sicher nicht: sozial!

 

Hand auf's Herz, haben sie in den letzten Jahren nicht auch schon immer wieder mal vom Bruttosozialprodukt gesprochen? Wenn ja, sind sie in guter Gesellschaft. Was der ZDF-Moderatorin unbekannt sein dürfte, ist auch vielen Zeitgenossen egal, und dabei spielt das Bildungsniveau keine Rolle. Achten Sie mal darauf. Das Bruttosozialprodukt (BSP) ist weiterhin in aller Munde.

 

Tatsächlich wurde das BSP 1999 mit der dann in Kraft tretenden Revidierung des Systems Europäischer Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG 1995) abgeschafft und durch einen neuen Indikator ersetzt: das Bruttonationaleinkommen (BNE). Neben statistischen Änderungen (Berücksichtigung der Subventionen und Gütersteuern/Zölle im in internationalen Handel, sowie von Software und Lizenzen) sollte der neue Begriff auch den Einkommenscharakter der Größe stärker hervorheben.(1)

 

Diese gute Absicht verpuffte jedoch – warum auch immer. In der öffentlichen Diskussion dominierte weiterhin das Bruttosozialprodukt, das durch Schulunterricht, Wirtschaftspresse und nun auch durch Populärkultur als Begriff etabliert war. In den relevanten Statistiken (supra)staatlicher Behörden fand jedoch ein – bis heute nicht als solcher thematisierter – Paradigmenwechsel statt: Statt Sozialprodukt/Nationaleinkommen wurde das Wirtschaftswachstum und der politische Regierungserfolg nun ausschließlich am Bruttoinlandsprodukt (BIP) gemessen.

Der Unterschied ist definitorisch in den meisten Lehrbüchern gut beschrieben: das Bruttoinlandsprodukt umfasst den Wert aller innerhalb der Landesgrenzen erbrachten Leistungen (Güter und immaterielle Werte). Dabei können diese von den Inländern (innerhalb des Landes wohnhafte Bevölkerung) oder Ausländern (außerhalb des Landes wohnhafte Menschen) erbracht worden sein, das spielt beim BIP keine Rolle. Felix Meierhofers Arbeitsleistung beim Automobilzulieferer in Bolkenbach ist dabei. Aber auch die Pflegeleistung der polnischen Grenzgängerin Maria Szymanska in Görlitzer Seniorenheim. Das Bruttonationaleinkommen hingegen umfasst alle Einkommen der Inländer (innerhalb der Landesgrenzen wohnhafte Bevölkerung), unabhängig davon, ob diese ihr Einkommen durch wirtschaftliche Aktivitäten im Inland oder weltweit erzielt hat. Felix Meierhofers erwähnte Leistung beim Automobilzulieferer zählt ebenso zum BNE wie die Dividende seiner Nachbarin Stephanie Weber aus ihrer amerikanischen Apple-Aktie, für die der indische Programmierer Numan Singh geschuftet hat.

Die Differenz zwischen Inlandsprodukt und Nationaleinkommen ist – in Deutschland – nicht groß. Aber auch nicht bedeutungslos. Vielmehr passte der Wechsel des dominierenden Indikators zum neoliberalen Zeitgeist der 90er und 2000er Jahre. Denn während das BSP/BNE das Einkommen der Wohnbevölkerung misst und somit dem Charakter eines Wohlstandsindikators zumindest in monetärer Hinsicht genügt, so honoriert das BIP nur noch dann eine ökonomische Aktivität, wenn sie – von wem auch immer – innerhalb der Landesgrenzen erbracht wurde.

Das Wohl und Wehe der Volkswirtschaft wird seither primär an der Leistung gemessen – nicht daran, ob dafür auch das Einkommen im Land verbleibt.

 

Schaffe, schaffe! Das Häusle bauen im Zweifel andere...

 

Wenn man bedenkt, dass alle Versuche, neue, alternative Wohlstandsindikatoren jenseits des BIP zu etablieren, seit Jahrzehnten wenig durchschlagenden Erfolg haben, so verwundert es, dass auch in der BIP-kritischen Szene nicht wenigstens ersatzweise das BNE thematisiert wird. Jedenfalls sollte die einseitige Orientierung am BIP Anlass für wissenschaftliche, publizistische und auch schulische Diskussionen sorgen.

 

In der Bundesrepublik Deutschland müssten sogar Regierungspolitiker*innen dafür zu haben sein. Denn hierzulande liegt das BNE (2023: 4.286 Milliarden Euro) seit vielen Jahren wertmäßig immer über dem BIP (2023: 4121 Milliarden Euro)(3). Das bedeutet, dass die deutsche Wohnbevölkerung über ihr im Inland erzieltes Einkommen noch zusätzliches Einkommen aus Arbeitsleistungen oder Vermögen im Ausland bezieht.

 

An Hand der Gegenüberstellung von BIP und BNE lassen sich aber auch im Allgemeinen Anhaltspunkte finden, ob ein Land eher für die Einkommen anderer Volkswirtschaften arbeitet (also „ausgebeutet“ wird) oder – wie Deutschland, Frankreich oder Japan – zu den Gewinnern der (neokolonialen) Globalisierung gehört. Auf der Webseite macrotrends.net(4) genügen wenige Klicks, um die entsprechenden Werte aller Volkswirtschaften weltweit zu vergleichen.
 

Kolonialist*innen oder Kolonisierte – das Bruttonationaleinkommen gibt Aufschluss

 

Erwartungsgemäß zeigt sich insbesondere in Ländern des Globalen Südens häufig ein Einkommensabfluss, d. h. das BIP ist deutlich größer als das BNE. Länder wie die DR Kongo, Peru, Vietnam, Irak, aber auch die Ukraine müssen schon seit langem große Teile des im Land erwirtschafteten Einkommens an andere Volkswirtschaften abgeben. Das dort verzeichnete „Wirtschaftswachstum“ (gemessen am BIP) kommt nur zum Teil als BNE den lokalen Sozialwesen zugute. Vor diesem Hintergrund kann auch das Phänomen der weltweiten Migration verstanden werden. Die Bevölkerung ausblutender Volkswirtschaften macht sich (ökonomisch und moralisch nachvollziehbar) auf den Weg in die Länder, die das Einkommen aus ihrer Heimat abziehen.

 

In den besagten Staaten ist eine Tendenz pro BIP bzw. pro BNE dauerhaft zu beobachten. Auf Grund der (ökonomischen) Wirren der letzten Jahre ist dies in manchen Ländern so nicht gegeben. In Thailand, Argentinien oder Kroatien wechselte der Vorrang von BIP oder BNE hin und her (u. a. da die für weltweite Kapitalbewegungen entscheidenden Finanzmärkte in Aufruhr waren, aus diesem Grund habe ich in der Tabelle exemplarisch das Jahr 2019 gewählt).

 

Ungleichgewichte von BIP und BNE müssen je nach Volkswirtschaft unterschiedlich bewertet werden. Auch taugt das Siegel „Industrie-, Schwellen- oder Entwicklungsland“ nur bedingt zur Erklärung der Einkommensflüsse. Bangladesh hat zum Beispiel seit Jahren ein höheres BNE als BIP. Grund dafür könnten die von der Regierung durchgesetzten Kapitalverkehrskontrollen sein. In Erdölstaaten wie Qatar oder Azerbaijan übersteigt das BIP das BNE deutlich. Ein Land mit exorbitanten Einkommensabflüssen ist auch (das gar nicht so arme) Luxemburg. Die Erklärung hier ist einfach: ein gutes Drittel aller dort Beschäftigten pendelt täglich aus den drei Nachbarstaaten Deutschland, Belgien und Frankreich ein und nimmt am Abend den Tagelohn des erstellten BIP mit nach Hause. Umgekehrt profitiert das BNE von Ländern wie der Türkei sicher von Unterstützungstransfers durch im Ausland lebende Familienangehörige.

 

Es wäre also genauso unsinnig, hier eine pauschale Bewertung aller Volkswirtschaften an Hand eines oder zweier Indikatoren vorzunehmen, wie es Politik und Medien leider im Falle des BIP, des „Wirtschaftswachstums“ tun (noch dazu, wenn hier unhinterfragt Kennzahlen in internationalen Vergleichen gegenübergestellt werden). Doch sind – korrekt erstellte – Wirtschaftsstatistiken natürlich ein hilfreicher Analyse- und Diskussionsgegenstand in Bildungszusammenhängen. Und wenn hier fallbezogen ökonomische Zusammenhänge erkannt werden, gewinnt Unterricht an Mehrwert gegenüber einer desorientierten und desorientierenden Öffentlichkeit, in der Fakten nicht von Narrativen und Pauschalurteilen getrennt werden.

 

Booster the Curve!

 

Mit der erneuten Revision des Bruttoinlandsproduktes durch das ESVG 2010, welches im Herbst 2014 in Kraft trat, werden nun auch Drogenhandel und Prostitution als volkswirtschaftliche Leistungen und Waffen als Zukunftsinvestitionen in das BIP eingerechnet.(5) Nicht auszudenken, welch ironische Anspielungen weitere Liedstrophen beinhalten würden, hätten Geier Sturzflug den Text 30 Jahre später geschrieben...

 

Zurück im Fernsehgarten. Nicht nur die Moderatorin erkannte die Ironie des Hits offenbar nicht auf Anhieb. Nach meinen Erfahrungen meinen auch viele Schülerinnen und Schüler, es handele sich um einen Motivationssong für ein Gesellschaft, die auf „unsere Wirtschaft“ eingeschworen werden soll. Ironie ist bekanntlich nicht jederfraus und jedermanns Sache und als pädagogisches Mittel im Unterricht im Allgemeinen nur bedingt empfehlenswert. Solange eine gesellschaftliche Abkehr vom Wachstumsdenken weiterhin Zukunftsmusik ist, dürfte „Bruttosozialprodukt“ als erheiternder (und erklärungsbedürftiger) Unterrichtseinstieg jedoch auch künftig unschlagbar sein und helfen, Wahlkampfslogans und sonstige Polit-PR auf Kosten der Bevölkerung zu entlarven.

 

[1] Vgl. Bleses, Peter: "Revision der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung 1999 - Anlaß, Konzeptänderung und neue Begriffe". In: Wirtschaft und Statistik 4/1999. S. 257ff. https://www.statistischebibliothek.de/mir/servlets/MCRFileNodeServlet/DEAusgabe_derivate_00000325/Wirtschaft_und_Statistik-1999-04.pdf

[2] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/161227/umfrage/entwicklung-des-bruttonationaleinkommens-bne-in-deutschland/

[3] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1251/umfrage/entwicklung-des-bruttoinlandsprodukts-seit-dem-jahr-1991/

[4] BIP auf Englisch: GDP (Gross Domestic Product), BNE auf Englisch: GNI (Gross National Income) https://www.macrotrends.net/global-metrics/countries/ranking/gdp-gross-domestic-product

Zu beachten ist, dass die Werte alle nominal zu lesen sind. D. h. das die ausgewiesenen Steigerungen haben sind nicht das offizielle Wirtschaftswachstum, da die Inflation in den jeweiligen Werten nicht herausgerechnet wurde.

[5] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/illegale-aktivitaeten-sex-drogen-und-waffen-fuer-das-bip-13090550.html

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