Wenn früh am Morgen die
Werksirene
dröhnt
und die Stechuhr beim Stechen lustvoll
stöhnt
in der Montagehalle die Neonsonne
strahlt
und der Gabelstaplerführer mit der Stapelgabel
prahlt
ja dann wird wieder in die Hände
gespuckt
wir steigern das
Bruttosozialprodukt
ja ja ja jetzt wird wieder in die Hände
gespuckt
Die Krankenschwester kriegt 'n riesen
Schreck
schon wieder ist ein Kranker
weg
sie amputierten ihm sein letztes
Bein
und jetzt kniet er sich wieder mächtig
rein
ja jetzt wird wieder in die Hände
gespuckt
wir steigern das
Bruttosozialprodukt
ja ja ja jetzt wird wieder in die Hände
gespuckt
Wenn sich Opa am Sonntag auf sein Fahrrad
schwingt
und heimlich in die Fabrik
eindringt
dann hat Oma Angst dass er
zusammenbricht
denn Opa macht heute wieder
Sonderschicht
ja jetzt wird wieder in die Hände
gespuckt
wir steigern das
Bruttosozialprodukt
ja ja ja jetzt wird wieder in die Hände
gespuckt
Ah ah an Weihnachten liegen alle rum und sagen
Puh
der Abfalleimer geht schon nicht mehr
zu
die Gabentische werden immer
bunter
und am Mittwoch kommt die Müllabfuhr und holt den ganzen
Plunder
und sagt jetzt wird wieder in die Hände
gespuckt
wir steigern das
Bruttosozialprodukt
ja ja ja jetzt wird wieder in die Hände
gespuckt
Wenn früh am Morgen die Werkssirene
dröhnt
und die Stechuhr beim stechen lustvoll
stöhnt
dann hat einer nach dem andern die Arbeitswut
gepackt
und jetzt singen sie zusammen im
Arbeitstakt,takt,takt,takt,takt,takt,takt
ja jetzt wird wieder in die Hände
gespuckt
wir steigern das
Bruttosozialprodukt
ja ja ja jetzt wird wieder in die Hände
gespuckt
wir steigern das
Bruttosozialprodukt
ja ja ja jetzt wird wieder in die Hände
gespuckt
wir steigern das
Bruttosozialprodukt
ja ja ja jetzt wird wieder in die Hände
gespuckt
(Songtext des Liedes "Bruttosozialprodukt" der Gruppe Geier Sturzflug aus dem Jahr 1983.)
Ökonomische Dimension:
Die Feuilletonisten streiten darüber, ob wir noch im kartesianischen Zeitalter leben. Die Informationsflut der modernen Weltgesellschaft bringt neue Bemühungen hervor, sich einen ganzheitlichen Überblick zu verschaffen. Während auf der einen Seite holistische, qualitative Paradigmen und Betrachtungen auf dem Vormarsch sind (sei es in der Medizin, Bildung, Naturwissenschaft), so halten sich in allen Disziplinen hartnäckig rationalistische und quantitative Ansätze, die versuchen, die Realität zu objektivieren. Letzten Endes bedeuten klar definierbare und messbare Tatsachen eine Grundlage für moderne Rechtsstaaten, in denen Validität, Reliabilität und Objektivität der Kriterien gegeben sein muss. Und das, obwohl die physikalische Quantentherorie von der Objektivierbarkeit von Beobachtungen längst abgerückt ist. Aber im alltäglichen Umgang haben die modellhaften Verkürzungen sich scheinbar bewährt.
Um der Informationsflut Herr zu werden, verkürzen die Massenmedien Information immer
mehr auf knappe Fakten. Im Bereich der Wirtschaft verdichten Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsjournalismus seit vielen Jahren die wirtschaftliche Entwicklung auf wenige Indikatoren, die vermeintlich
objektive Aussagen über den Gesamtzustand der Wirtschaft zulassen. Bis zur Harmonisierung der europäischen Systeme der VGR im ESVG1995 (Europäisches System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen)
wurde im deutschsprachigen Raum der Indikator des BSP (Bruttosozialprodukt) bevorzugt. Das BSP wurde bei dieser Harmonisierung 1999 statistisch durch das Bruttonationaleinkommen (BNE) ersetzt,
welches in der breiten Öffentlichkeit jedoch keine so große Rolle mehr spielt. Der bedeutendenste Indikator ist seither das Bruttoinlandsprodukt (BIP), an Hand dessen werden
gemeinhin Aussagen über Wertschöpfung, konjunkturelle Lage (siehe hierzu Kapitel "Konjunktur und Wirtschaftswachstum") und Wohlstand getroffen. Definiert ist es als volkswirtschaftliche Wertschöpfung
der im Inland aktiven Wirtschaftssubjekte.
Bruttoinlandsprodukt = Im Inland durch Inländer erstellte Wertschöpfung/Nettoproduktionswert
+ Im Inland durch Ausländer erstellte Wertschöpfung/Nettoproduktionswert
Bruttonationaleinkommen = Von Inländern im Inland erzielte Einkommen
+ Von Inländern im Ausland erzielte Einkommen
(Zu beachten ist die nominelle Übereinstimmung von Wertschöpfung und erzielten Einkommen. D.h. in der ersten Komponente stimmen BIP und BNE definitorisch 1:1 überein. Weiterhin ist zu beachten, dass unter Inländern alle Menschen gemeint sind, die ihren ersten Wohnsitz im Inland haben (unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit). Ausländer sind alle Menschen mit erstem Wohnsitz im Ausland (auch wenn sie z. B. eine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen).)
Der Begriff "Wertschöpfung" suggeriert per se eine positive Wirkung eines gesteigerten Bruttoinlandsproduktes (= Wirtschaftswachstum). Doch kurioserweise hat die kritische VWL gerade in puncto Wertschöpfung und Wohlstandsmessung die Kritik aus der Nachhaltigkeitsdebatte schon am weitesten aufgegriffen. Oftmals unter Rückgriff auf den überspitzten, aber sachlich durchdachten Songtext "Bruttosozialprodukt" der Bochumer Popgruppe Geier Sturzflug findet sich in den meisten Lehrbüchern deutliche Kritik an der Aussagefähigkeit dieses in den Medien aus Vereinfachungsgründen überbewerteten Indikators. Man unterscheidet gemeinhin qualitative und quantitative Mängel.
Quantitative Mängel: Die Wertschöpfung wird falsch abgebildet, da bedeutende Anteile der Haushaltsproduktion aus Gründen der Erhebung und der Bewertung nicht im BIP berücksichtigt werden (so etwa eigene Haushaltsführung, familiäre Kindererziehung, privat organisierte Betreuung pflegebedürftiger Menschen).(1) Umgekehrt werden Reparaturen, Behebung von Umweltschäden, alle Arten medizinischer Behandlung als positive Wertschöpfung aufgefasst, obwohl ihr Beitrag zur Wertschöpfung bestenfalls als erhaltend betrachtet werden muss.
Qualitative Mängel: Es beinhaltet einen interpretativen Schritt, um vom der Wertschöpfung zur Wohlstandsmessung zu kommen. Gewisse Aussagen zum Wohlstand sind auf Grund des BIP durchaus machbar – so bildet die absolute Höhe des BIP eine Basis verschiedene Nationalökonomien international zu vergleichen. Da die obigen quantitativen Mängel systematisch auftreten, können sie beim Vergleich mehrerer aufeinander folgender Jahre durchaus vernachlässigt werden. Hier heißt es aber Vorsicht: Oft wird die Steigerung des BIP (=Wirtschaftswachstum) als Maßstab des Wohlstandes aufgefasst, was selbstverständlich nicht statthaft ist. Schwellenländer wie China oder Indien verzeichnen besonders hohe Zuwachsraten, doch sagt dies nichts oder wenig über das Wertschöpfungs- oder Wohlstandsniveau aus. Im Gegenteil, die Empirie weist hohe Zuwachsraten gerade für unterentwickelte oder im Aufholungsprozess befindliche Nationalökonomien aus. Hier ist ein großer Aufklärungsbedarf zu sehen, da dem Lernenden oder Laien in der öffentlichen Diskussion oft geringere Zuwachsraten als Zeichen ökonomischer Schwäche erscheinen (das Land mit traditionell besonders geringen Wachstumsraten ist die ach so arme Schweiz).
Makabererweise starb der langjährige Verleger und Publizist Theobald just am 1. September 2014, dem Tag, seit dem in Folge der Revision der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung durch das ESVG 2010 europaweit auch Prostitution, Drogenhandel und Zigarettenschmuggel als volkswirtschaftliche Leistungen in das Bruttoinlandsprodukt eingerechnet werden. Theobald konnte dazu nicht mehr Stellung beziehen, aber auch die konservative Wirtschaftspresse attestierte der Neuerung, dass sie einzig und allein zur statistischen Beschönigung von Wirtschaftsdaten und zur leichteren Erfüllung der EU-Maastricht-Kriterien für Staatsverschuldung erfolgt sei. (2)
Ökonomisch umstritten sind auch die Vorteile des Wirtschaftswachstums, welches durch Staatsverschuldung generiert wird. Zwar ist Staatsverschuldung nicht a priori so negativ wie es populistische Darstellungen wie Schuldenuhren glauben machen möchten (ohne Gegenüberstellung von volkswirtschaftlichem Vermögen ist der Schuldenstand nicht bewertbar und auch die Frage von Verschuldung im Inland oder – wesentlich problematischer – im Ausland wird dabei übergangen). Doch sind die Verteilungswirkungen von Staatsverschuldung prinzipiell regressiv (d.h. einkommensärmere Schichten ziehen dabei in der Regel den Kürzeren). Die Gefahr eines Staatsbankrotts (der wiederum alle treffen würde) oder die Abwehr desselben mittels staatlich forcierter Inflation wird billigend in Kauf genommen. (3)
Soziale Dimension:
Die soziale Dimension betrifft die Verteilung des Einkommens der Nationalökonomie. Dabei ist genau zu beachten, welche statistische Aufbereitung man betrachtet. Prinzipiell könnte man von einer großen Chance auf weitverbreiteten Wohlstand ausgehen, sofern das BIP absolut (pro Kopf) gesehen besonders hoch ist. In den meisten Industrienationen ist dies auch der Fall – allerdings ist das BIP nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung. Gerade die USA gelten als Paradebeispiel, da trotz hohen BIPs das Wohlstandsgefälle eklatant ist. Und in den meisten Ländern sind Studien an der Tagesordnung, in denen von einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich berichtet wird.
Schade ist, dass in den Medien das BIP die zentrale Wahrnehmung erhält – in der Zeit vor der Neuordnung der VGR durch das ESVG1995 war noch das BSP (heute BNE) im Fokus, eine statistische Größe, die deutlich näher an der Einkommensverteilung liegt. Wenn überhaupt, sollte daher das Volkseinkommen pro Kopf herangezogen werden, welches an Hand der Verteilungsrechnung ermittelt werden kann, wohlweislich des Vorbehalts, dass ohne Betrachtung der Varianz/Streuung um den Mittelwert eine verlässliche Aussage über die reale Einkommensverteilung wenig aussagekräftig ist und ein Blick in die Straßen des Landes mehr Aufschluss gibt.
Was die VGR nicht im Mindesten verrät, sind gesellschaftliche Aspekte von Wohlstand, die gerade in den vergangenen Jahren immer stärker ins Bewusstsein drängen: Entwicklung von Arbeitszeiten, psychischer Druck am Arbeitsplatz, Zeitwohlstand, Tätigkeitswohlstand, Beziehungswohlstand, Zukunftschancen junger Menschen, sozialer Zusammenhalt der Gesellschaft, inter- und intranationale Migrationsprobleme, Kriminalität.
Ökologische Dimension:
Während privatwirtschaftliche Unternehmen gesetzlich zur Rechnungslegung, Bilanzierung und Gegenüberstellung von Erträgen und Aufwendungen gezwungen sind, so missachtet die nationalökonomische Rechnungslegung diese Prinzipien systematisch, ja schlimmer, sie verleitet geradezu zum Raubbau an Natur und Mensch. Denn allein positiv zählt, was durch Marktaktivitäten im Wirtschaftsprozess nutzbar gemacht werden kann. Eine Gegenrechnung von Erträgen und (ökologischen) Kosten findet nicht nur nicht statt, jede Verwertung von Natur erhöht das BIP, auch wenn sie auf mittlere Sicht sogar die Einkommensmöglichkeiten einer Gesellschaft mindert und den Wohlstand auf Grund einer intakten Natur schädigt.(4) Abbau von Rohstoffen ist kaum zu bewerten ebenso wenig wie die Regenerationsfähigkeit von Ökosystemen. Allein hier zeigt sich die Widersinnigkeit des BIP und der Diskussion um Wirtschaftswachstum aus ökologischer Sicht.
Dieser prinzipiellen statistischen Schwierigkeit sehen sich auch alternative Vorschläge zur Berechnung eines Wohlstandsindex ausgesetzt. In den 80ern und 90ern wurden der ISEW (Index of Sustainable Economic Welfare), der GPI (Genuine Progress Indicator) und der HDI (Human Development Index) entwickelt. Darin werden etwa die tatsächliche Einkommensverteilung, unbezahlte Hausarbeit, Gesundheitskosten, Bildungskosten, Umweltverschmutzung, Ressourcenabbau und Kosten der Klimaveränderung mit berücksichtigt. Im Unterricht bilden sie jedoch ein wertvolles Hilfsmittel zur Problematisierung der Thematik ab.
Seit den 70ern von vielen Lehrenden in großer Ausführlichkeit behandelt wird das
Thema Grenzen des Wachstums. Diese durch mehrere Neuauflagen (die letzte 2004) bekannteste Publikation der amerikanischen und norwegischen Autoren Meadows/Meadows/Randers stellt die prinzipielle
Unmöglichkeit eines unbegrenzten (physischen) Wachstums in einer begrenzten Welt heraus und trotz zeitlicher Fehlkalkulationen und verfahrenstechnischer Kritik an den verwendeten Modellen weist sie
auf den Widerspruch zwischen Wachstumsphantasien und Begrenzungen der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Kapazität von Systemen hin, der bis heute nicht widerlegt worden ist.
Wachstumsanhänger bemühen gerne die Hoffnung auf eine Entkopplung von Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum, etwa im Zuge des Trends zur Dienstleistungsgesellschaft. Dieses hat sich relativ
gesehen zwar auch so ergeben (die Zuwachsraten des Ressourcenverbrauchs hinken inzwischen in Dienstleistungsgesellschaften denen des BIP hinterher), doch bis heute sind weltweit gesehen eine absolute
Entkopplung nicht festzustellen. Der von “Grenzen des Wachstums” prognostizierte Zusammenbruch elementarer Versorgung ganzer Volkswirtschaften hängt damit wie ein Damoklesschwert über der
Weltwirtschaft – die weltweite Wirtschaftskrise 2009 mag mithin nur ein Vorgeschmack gewesen sein auf Verwerfungen, die durch Ressourcenknappheit oder ökologische Systemsprünge oder Kippvorgänge
(z.B. Zusammenbruch des wärmezuführenden Golfstroms im Atlantik) zu erwarten wäre.
Die Herausforderung hier besteht darin, das Thema “Grenzen des Wachstums” nicht als Anhängsel zum herkömmlichen VWL-Unterricht zu behandeln oder es in Konflikt mit vermeintlichen
Wachstumserfordernissen realer Ökonomien stehen zu lassen, sondern eine Weiterentwicklung dieser in Richtung einer nachhaltigen Steady-State-Ökonomie darzustellen und im Unterricht durchzuhalten.
Andernfalls werden Ohnmachtsgefühle und Frustrationen geschürt, die der Lösung des globalen Problems nicht zuträglich sind (ausführlich im Kapitel Wirtschaftswachstum)
Die obenstehenden Ausführungen zeigen, wie problematisch allein die Bezeichnung des BIP als Indikator für Wertschöpfung und Wohlstand zu sehen ist. Auf Grund seiner gesellschaftlichen Omnipräsenz kann natürlich nicht auf die Behandlung im VWL-Unterricht verzichtet werden, doch sollte die Kritik einen sehr breiten Raum einnehmen. Zudem sollten weiterreichende Indices ebenfalls erklärt werden, um die Dominanz des BIP zu relativieren.
Wohlfahrtsindices
Das BIP ist ungeeignet, um Aussagen über die “Nachhaltigkeit” oder die “Qualität” des Wachstums zu treffen. Es geht auch nicht um ein Nullwachstum des BIP, sondern um Nullwachstum im physischen Ausmaß – und zwar möglichst bei weltweiter Betrachtung. Gleichzeitig sollen Wohlfahrtsindices Aufschluss geben über den Wohlstand innerhalb einer Volkswirtschaft. “Wirtschaftswachstum” bzw. BIP-Wachstum werden hiermit überfordert. Zur Beurteilung der Lage von Wirtschaft, Sozialem und Umwelt benötigt man daher diverse Indices. Im Folgenden ein kleiner Überblick.
Bruttoinlandsprodukt (BIP) = In den Industriezweigen produzierte Güter u. Dienstleistungen einer Volkswirtschaft während eines Jahres, gemessen in Euro.
Wird in der Literatur gerne mit der Wirtschaftsleistung einer Volkswirtschaft übersetzt. Zu beachten ist die Kritik aus dem Kapitel VGR. Alles was gesellschaftlich monetarisierte Kosten verursacht, geht in das BIP ein, z.B. Umweltschäden, Gesundheitskosten. Alles, was offiziell nicht monetär bewertet wird, fehlt, z.B. Kindererziehung, (private) Altenpflege, Schwarzarbeit. Ein alternativer Begriff ist m.E. “Wirtschaftsaktivität”, weil in diesem Begriff eine positive Bedeutung nicht direkt abzulesen ist und der Charakter des BIP wertfreier zum Ausdruck kommt. Eine erhöhte Wirtschaftsaktivität kann nämlich eindeutig auch zum Nachteil der betroffenen Menschen und der Natur gereichen.
BIP/Kopf = Die Wirtschaftsaktivität/-leistung pro Einwohner – soll die Wirtschaftsleistung international vergleichbar machen, ist aber sehr wenig aussagekräftig, da die Verteilung des BIP unklar ist. Zudem kommt es bei Prokopfbetrachtungen auch eher auf die Einkommenssicht an – das BIP bezieht sich ja auf die Produktionssicht. Bei europäischen Statistiken führt grundsätzlich Luxemburg die Liste mit weitem Abstand an (2008: 65700 KKS (Kaufkraftstandard) gegenüber Irland als zweiten (34200 KKS) und Deutschland (26900 KKS)).(5) Solche Statistiken sind barer Unsinn insbesondere im Falle Luxemburgs, weil hier ein Drittel der Arbeitnehmer aus den Anrainerstaaten Deutschland, Frankreich und Belgien einpendelt, hernach bei der Prokopfbetrachtung jedoch aus der Statistik fallen.
Bruttonationaleinkommen (BNE) = Das von den Einwohnern einer Volkswirtschaft erwirtschaftete Einkommen im In- und Ausland (Einkommen, die zwar im Inland erwirtschaftet wurden, aber ins Ausland abfließen, werden vom BIP abgezogen).
Das BNE ist seit der Revision der europäischen volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen der Nachfolger des im Volksmund noch oft zitierten Bruttosozialproduktes. Da es eine Einkommensgröße ist, kommt es sicher näher an die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt als das BIP. In Deutschland stimmt betragsmäßig in etwa mit dem BIP überein (Einkommenszu- und -abflüsse gegenüber dem Ausland wiegen sich in etwa auf). Im Falle von Entwicklungsländern muss zur Beurteilung des Wohlstandes in jedem Fall das BNE verwendet werden. In vielen dieser Länder wie z.B. Nigeria fließen die Einkommen aus der Rohstoffausbeutung (hier Öl) in großen Teilen direkt ins Ausland ab (obwohl sie das BIP Nigerias steigern)(6).
BNE/Kopf = Bruttonationaleinkommen pro Einwohner. Im internationalen Vergleich ermöglicht es Wohlstandsniveaus verschiedener Volkswirtschaften nebeneinander zu stellen – in Euro gemessen wird jedoch die lokale Kaufkraft unterschlagen, daher werden manche Statistiken in Kaufkraftstandards (KKS) umgerechnet. Eine Aussage über die Verteilung des Einkommens (egalitär oder starke Kluft zwischen Arm und Reich) lässt sich dabei jedoch nicht ablesen.
Inlandsprodukt und Nationaleinkommen sagen nicht darüber aus, wieviel Einkommen tatsächlich beim Einwohner ankommt. In manchen Ländern fließen höhere Anteile des BNE an den Staat, der darüber seine Ausgaben bestreitet. In anderen Ländern verbleibt ein höherer Anteil des BNE beim einzelnen Bürger, der dann seinerseits über die Ausgaben entscheiden darf (oft wird dieser geringere Staatsanteil begleitet durch höhere bzw. privatisierte Kosten für Sozialleistungen).
Volkseinkommen = Bruttonationaleinkommen abzüglich Abschreibungen und Gütersteuern, zuzüglich Gütersubventionen.
Verfügbares Einkommen = Volkseinkommen - Einkommen des Staates + staatliche Transferzahlungen an Unternehmen und Haushalte - direkte Steuern u. Sozialversicherungsbeiträge von Unternehmen und Haushalten - nicht ausgeschüttete Gewinne der Unternehmen.
Die obigen Indices werden seit vielen Jahren vom Statistischen Bundesamt in Wiesbaden erhoben und spielen in den öffentlichen Diskussionen eine entscheidende Rolle. Allen ist gemeinsam, dass sie Nachhaltigkeitskriterien nicht genügen. Die Verteilung lässt sich anhand der Verteilungsrechnung (Aufteilung des Volkseinkommens in Arbeitsnehmereinkommen und Einkommen aus Unternehmenstätigkeit, Kapital und Vermögen) bestenfalls erahnen.
Seitdem Kritik am herkömmlichen Wachstumsbegriff aufkam, hat es immer wieder Versuche einer Berücksichtigung der Umweltkosten sowie sozialer Faktoren gegeben.
Index of Sustainable Economic Welfare (ISEW)
Der private Konsum laut Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung wird modifiziert durch monetär bewertete Größen: Einkommensverteilung (je ungleicher die Verteilung, desto geringer die Steigerung des Gesamtwohlstandes), unbezahlte Hausarbeit (additiv), öffentliche Ausgaben des Gesundheitswesens (subtraktiv), Bildung (additiv), Luftverschmutzung und allgemeine Umweltverschmutzung (subtraktiv), Rückgang von Ressourcen und Naturvermögen (subtraktiv). Wiegesagt ist der private Konsum die Ausgangsgröße und nicht das BIP, da unterstellt wird, dass nur der Konsum der Privathaushalte wohlfahrtssteigernd ist (Investitionen und Außenbeitrag haben hingegen keinen positiven Beitrag auf das Wohlbefinden – sie verursachen in der betrachteten Rechnungsperiode lediglich Arbeit und Ressourcenverbrauch). Gewisse Ausgaben des Staates müssen hinzugerechnet, andere abgezogen werden. Dies bewirkt, dass der ISEW steigen kann, obwohl der private Konsum stagniert, etwa wenn die Einkommensverteilung gleicher wird. Umgekehrt führt ein steigender Konsum nicht zu einem besseren ISEW, wenn er auf steigender gesellschaftlicher Ungleichheit beruht.
Herman Daly und John Cobb führten den ISEW 1989 ein und berechnete die Werte ab 1950 für die USA, Australien, Chile, die Niederlande, Italien, Schweden, Österreich und Deutschland. Mit Ausnahme von Italien zeigte sich in allen Ländern, dass die volkswirtschaftliche Wohlfahrt ab Mitte der 70er oder zu Beginn der 80er Jahre nicht nur hinter dem BIP zurückblieb, sondern absolut zurückging (deutsche Werte ab 1990 auf die Wiedervereinigung zurückzuführen).(7)
Genuine Progress Indicator (GPI)
Die gleichen Autoren machten sich Anfang der 90er an die Überarbeitung des ISEW und ersetzten ihn durch den GPI. Wie sich aus unten stehender Grafik ergibt, wurde der ISEW um Abzüge für Kosten der globalen Erwärmung durch Kohlendioxid sowie für gesellschaftliche Ausgaben für die Kompensation von Umweltbelastungen erweitert(8):
Leider wird auch der GPI bislang nur für wenige Länder (vorwieged im anglo-amerikanischen Raum) berechnet. In den meisten Auswertungen zeigt sich bei Vergleich zum Pro-Kopf-BIP (Gross National Product) jedoch ein deutliches Zurückbleiben bzw. ein Abfall der gesellschaftlichen Wohlfahrt seit den 70er Jahren.(9)
Nationaler Wohlfahrtsindex (NWI)
Der Bereich der alternativen Wohlfahrtsmessung ist immer noch von wenig Kontinuität gekennzeichnet. In vielen Ländern wurden nationale Umweltberichtssysteme entwickelt, jedoch nicht international vergleichbar. Zudem ist natürlich ein System von ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Kennziffern deutlich schlechter kommunizierbar als ein einheitlicher Maßstab nach dem Vorbild des BIP. Als erstes Land versuchte sich Japan bereits 1973 mit der Etablierung des Net National Welfare (NNW). In Deutschland wird ganz aktuell der NWI, der von Hans Diefenbacher und Roland Zieschank entwickelte Nationale Wohlfahrtsindex diskutiert.(10) Er stellt wiederum eine Weiterentwicklung des GPI dar, der ja vorwiegend im nordamerikanischen Raum zum Einsatz kam. Die berücksichtigten Messgrößen sind ebenfalls aus oben stehender Tabelle abzulesen. Eine Zeitreihenanalyse für Deutschland seit dem Jahr 1990 zeigt, dass der NWI durch das Herausrechnen von wohlfahrtsmindernden Aktivitäten geringer liegt als das entsprechende Bruttoinlandsprodukt (BIP) des jeweiligen Jahres (11).
Human Development Index
(HDI)
ISEW und GPI sind nur für wenige
Industrienationen berechnet worden. Im Wesentlichen legen sie die quantitativen und qualitativen Schwachstellen der herkömmlichen Wohlfahrtsmessung mittels BIP/BNE
offen.
Ihre Berechnung wurde jedoch nie verstetigt und für eine Vielzahl von Ländern durchgeführt. Anders der
Human Development Index. Der HDI hingegen wird seit 1990 vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) für fast alle Staaten der Welt veröffentlicht. Drei Teilindices werden hier
berücksichtigt, die je zu einem Drittel in den HDI
einfließen:
Alljährlich veröffentlicht das UNDP eine Liste aller erfassten Staaten, welche in vier Kategorien aufgeteilt ist:
Die Liste wurde seit 1990 immer angeführt von Norwegen, Kanada oder Island (2018 belegte Deutschland den 4. Platz – seit 2009 ist es von Platz 22 nach vorne gewandert). Darum wird der Index auch immer wieder kritisiert, es handle sich um eine Messgröße, die lediglich angebe, wie “skandinavisch” ein Land sei. Außerdem brauche man den Index nicht, weil alle einfließenden Faktoren sowieso schon im zentralen Fokus der Entwicklungsanstrengungen ständen(12).
Entgegenzuhalten ist, dass in unserer Welt das Medien-, Wissenschafts- und das politische Establishment “messbare” Fakten eher wahrnimmt. Das BIP hat eine solch dominierende Stellung, dass dieser wahrscheinlich nur mit der breiten Akzeptanz eines konkurrierenden Index begegnet werden kann. Nicht zuletzt messen sich Politiker und – einer Fußballweltmeisterschaft gleich – ganze Staaten an Hand von wirtschaftlichen Messgrößen. Der HDI bietet hier immerhin eine neue Perspektive auf Entwicklung.
Im Sinne der nachhaltigen Entwicklung ist der Index jedoch ungeeignet. Es fehlen gänzlich ökologische Aspekte, die den Zustand der Natur und Ressourcen angeben und damit die Zukunftschancen des Landes mit abbilden.
Glücksforschung
In wiederkehrenden Wellen befassen sich Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler des
ökonomischen Mainstreams mit der Frage, was denn nun ein besserer Wohlfahrtsindex wäre als das so arg kritisierte Bruttoinlandsprodukt. Ökologische Nachhaltigkeit spielt dabei weniger eine Rolle denn
die Frage nach dem persönlichen Wohlbefinden der Bürger. Und zumeist ergibt sich – wenig verwunderlich –, dass das BIP tatsächlich kaum etwas damit zu tun hat.
Ausgerechnet die arbeitgebernahe Lobbbygruppe Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) gab eine Studie zu einem “Glücks-BIP” in Auftrag(13).
Daran lässt sich erkennen, dass dieses “Glücks-BIP” keine dauerhafte Steigerung des Wohlbefindens der Bevölkerung für den Betrachtungszeitraum ausweist, obwohl das offizielle BIP in der gleichen Zeit um rund 30% gestiegen ist. Und so konstatiert die INSM auch zurecht: “Wirtschaftswachstum bedeutet nicht automatisch mehr Lebenszufriedenheit.”(14) Im Resummee erläutert Max A. Höfer, Geschäftsführer der INSM jedoch: “Das Glücks-BIP hat nicht zum Ziel das herkömmliche BIP als Wohlstandsindikator vollständig abzulösen. Wir wollen damit lediglich einem ergänzenden Indikator anbieten, der als zusätzliche Grundlage für politische Entscheidungen dienen kann.“
Es lohnt sich jedoch über die Presseerklärung hinaus einen Blick in die Studie zu werfen. Die obenstehende Tabelle weist aus, dass im Konzept des “Glücks-BIP” vorwiegend wirtschaftsnahe Faktoren eine Rolle spielen: BIP-Wachstum, Arbeitslosenquote, Sorge um den Arbeitsplatz, Wohneigentum. Interessanterweise kommt eine zunehmende Ungleichheit der Einkommensverteilung der “Glücks-BIP” zu Gute. Die Autoren begründen dies mit empirischen Ergebnissen des zu Grunde liegenden sozio-oekonomischen Panels(15).
Das Streben nach Glück - Das Easterlin Paradoxon
Von PAUL KRUGMAN (New York Times vom 29.März 2000)
"Der große Erfolgfilm der diesjährigen Oscarverleihung war "American Beauty," ein Film, der auf der gleichwohl gewagten wie altbekannten Moral aufbaut, das materielle Besitztümer nicht glücklich machen. Ja, nicht alle banalen Ideen sind so ganz falsch. Und in der Tat gibt es genügend Beweismaterial, das Geld nun wirklich nicht alles ist - oder zumindest nicht so wichtig, dass man ihm wirklich übertriebene Beachtung schenken sollte.
Jetzt könnte ich die gesammelten Weisheiten der Menschheit zum Besten geben - aber halt, wir leben in der Moderne, also betrachten wir einmal die Meinungsumfragen. Seit Ende des zweiten Weltkriegs wurden regelmäßig repräsentative Umfragen in den USA und anderen Ländern gemacht, in denen die Befragten Aussagen über ihr Wohlbefinden und Glücksempfinden machen sollten. Als der Wirtschaftshistoriker Richard Easterlin diese Umfragen in seinem klassischen Aufsatz von 1974 systematisierte, kam er zu einem Ergebnis, das seither als "Easterlin Paradoxon" bekannt geworden ist. Kurz gefasst, oberhalb eines gewissen Mindestlebensstandards führt zusätzliches Wirtschaftswachstum nicht mehr zu größerem Wohlbefinden. Spätere Studien stützten seine These, dass die Amerikaner der 90er Jahre sich keinen Deut wohler fühlten als die Amerikaner der 40er Jahre. Sogar die Japaner, die seit den 50er Jahren vom Level eines Entwicklungslandes zu allgemeinem Reichtum in den 90ern aufgestiegen sind, wurden nicht glücklicher.
Mr. Easterlin führte als Erklärung dafür, dass wirtschaftliches Wachstum nicht glücklicher macht, an, dass sich Menschen in erster Linie im Vergleich zu ihrer unmittelbaren Umgebung bewerten. Wer $32.000 verdient in einer Gesellschaft, deren Durchschnittseinkommen $40.000 beträgt, fühlt sich mit großer Wahrscheinlichkeit genauso benachteiligt wie jemand mit $8.000 pro Jahr in einer Gesellschaft mit einem Prokopfeinkommen von $10.000. Also selbst eine Vervielfachung des Einkommens wird nicht zu einem größeren Wohlbefinden führen. Und weitere Studien zeigen, dass selbst ein relativer Einkommensanstieg innerhalb einer Gesellschaft nicht so viel mehr an Wohlbefinden bringt, wie sich die meisten von uns vorstellen. [...]"(16)
Die Studien von Easterlin widersprechen der Aussage der aktuellen INSM-Studie, dass eine erhöhte Ungleichheit der Einkommensverteilung die Lebenszufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger steigert. Worin sich die Glücksstudien einig sind, ist, dass das herkömmliche Bruttoinlandsprodukt wenig Aussagekraft in Hinblick auf gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt hat. In Bhutan hat der ehemalige König Jigme Singye Wangchuck einen Glücks-Indikator “Bruttonationalglück” entwickeln lassen: Wohlbefinden, Gesundheit, Bildung, Staatsführung, der Lebensstandard und ökologische Vielfalt. Dass die Staatsform selbst Teil des Index ist, mag an der Umstrittenheit der neu eingeführten konstitutionellen Monarchie liegen – viele Bürger (und natürlich die Königsfamilie selbst) würden lieber eine Monarchie bevorzugen. (17)
Es braucht kein “Glücks-BIP” der INSM um zu erkennen, dass Teil des Glück-Indikators von jeher immer vor allem jene Faktoren sind, die dem Entwickler bzw. dem Auftraggeber des Indikators wichtig sind. Dennoch ist es bemerkenswert, dass Bhutan als erstes und bislang einziges Land der Welt seine Wirtschaftspolitik nicht am Wachstum des Bruttoinlandsproduktes sondern am Bruttonationalglück ausrichtet und dies sogar in der Verfassung verankert hat. Umwelt- und Naturschutz genießen eine weitaus höhere Priorität als in den westlichen Industrieländern, sowohl in der Politik als auch im Bildungssystem(18).
Happy Planet Index (HPI)
Die Konstruktion eines jeden Index sollte im Mittelpunkt des Unterrichts im Bereich der Wohlfahrtsmessung stehen. Dazu gehört auch eine Reflexion der weltanschaulichen Grundlagen, die zur Aufnahme bestimmter Teilgrößen geführt haben. Durch den Vergleich sehr unterschiedlicher Indices wird die Subjektivität der vermeintlich objektiven Messgrößen offenbar.
Das “Glücks-BIP” des INSM zeichnet sich durch eher materialistische Schwerpunkte aus. Den geradezu umgekehrten Weg geht – trotz der namentlichen Ähnlichkeit – der “Happy Planet Index”. Entwickelt wurde er von der britischen “New Economics Foundation” in Zusammenarbeit mit Friends Of the Earth (der Dachorganisation des BUND). Der HPI versucht den Brückenschlag zwischen ökologischer Nachhaltigkeit und gesellschaftlicher Wohlfahrt. Bemerkenswert ist, dass die USA lediglich den 108. Platz von 140 untersuchten Ländern belegen (Deutschland ist 49.). Das macht neugierig. Der HPI ordnet die Staaten nicht nach Glücksempfinden oder materiellem Wohlstand der Bewohner. Lebenserwartung und (subjektive) Lebenszufriedenheit werden in Zusammenhang mit den Ökologischen Fußabdruck des betreffenden Landes gebracht. Das heißt, die Effizienz des materiellen Ressourcenverbrauchs in Hinblick auf Lebenszufriedenheit und Lebenserwartung wird gemessen – mit wie wenig Ressourcen kann eine Gesellschaft dennoch ein glückliches und langes Leben ermöglichen? Die Rangfolge wurde in den letzten Jahren am häufigsten von Costa Rica angeführt. (19)
Wie verteilt sich der Wohlstand? - Aussagekraft von verteilungspolitischen Indices
Aus der Volkswirtschaftilchen Gesamtrechnung heraus versucht man über die Verteilungsrechnung zu Antworten zu kommen. Dabei wird das Volkseinkommen (siehe oben) auf die Anteile der Produktionsfaktoren Arbeit einerseits und Kapital/Boden andererseits aufteilt. Die sich dabei ergebenden Aussagen sind jedoch (wie so oft bei Statistiken) mit größter Vorsicht zu genießen. In unten stehender Grafik liegen die Arbeitnehmerentgelte weit über den Einkommen aus Unternehmenstätigkeit und Vermögen. Dabei deutet sich allerdings eine Auseinanderentwicklung insbesondere ab 2003 an (Zeitpunkt der Agenda 2010).(20)
Deutlicher wird das ein Auseinanderdriften durch die Lohnquote (prozentualer Anteil der Arbeitnehmereinkommen am Volkseinkommen). Seit der Weltfinanzkrise hat sie sich zwar stabilisiert, insgesamt ist die (unbereinigte) Lohnquote seit der Deutschen Einheit jedoch rückläufig.(21)
Zu beachten bei der Lohnquote ist jedoch, dass man sie “bereinigen” muss, um verteilungspolitische Aussagen machen zu können: Wenn nämlich die Lohnquote fällt, aber gleichzeitig der Anteil der Bürger zunimmt, die ihr Haupteinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögensanlage beziehen, so könnte der Zugang zu Einkommen interpersonal in etwa gleich geblieben sein. Langfristig fand allerdings eher der umgekehrte Trend statt: Der Anteil der Bürgerinnen und Bürger, die ihr Haupteinkommen aus Unternehmenstätigkeit und Vermögen bezogen, ist bedingt durch die Konzentration auf dem Märkte und die Aufgabe inhabergeführter Geschäfte seit den 60er Jahren gesunken. Daher muss sich die Lohnquote auf immer mehr abhängig Beschäftigte aufgeteilen, da es immer weniger Bürger gibt, die selbstständig sind (die zunehmende Verbreitung von Aktien- und Fondvermögen unter den Arbeitnehmern wirkt hier allerdings entschärfend, wobei dies vorzugsweise wieder der wohlhabenderen Hälfte der Bevölkerung zu Gute kommen dürfte). Der Anstieg der bereinigten Lohnquote in den Jahren 2017-2019 könnte auf überdurchschnittlichle Tarifabschlüsse und den gleichzeitigen Verfall der Sparzinsen zurückzuführen sein.(22)
Worüber sich die Betrachtung ausschweigt, sind produktivitätsbedingte Einkommenszuwächse innerhalb der Lohnarbeit. Seit der Agenda 2010 (in Medien und Volksmund als „Hartz-Gesetze“ bekannt), hat die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes zu einem starken Wachstum der sogenannten atypischen Beschäftigung geführt. Lange ging diese vor allem auf Kosten der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitarbeit – erst in den Jahren nach 2015 hat sich auch diese wieder erholen können.(23)
Dass substantielle Teile der Erwerbsbevölkerung nur unter Aufbietung zusätzlicher Arbeitszeit an der zuletzt wieder gestiegenen Lohnquote partizipieren können, zeigt die Statistik zu Zweitbeschäftigungsverhältnissen. Seit 1999 hat sich deren Zahl mehr als verdoppelt. (24)
Praktisch jährlich erscheinende Erfolgsmeldungen zu neuen Rekorden bei der Zahl der Erwerbstätige übersehen damit, dass sich in der Statistik zunehmend Personen befinden, die zur Existenzsicherung (oder zusätzlichem Konsum) eine Zweitbeschäftigung annehmen (müssen.) (Siehe auch Kapitel zum Arbeitsmarkt.)
(1) Landwirtschaftliche Eigenproduktion, Einnahmen aus Vermietung und Eigenleistungen am Bau werden mittlerweile eingrechnet.
(2) Plickert, Philip: Sex, Drogen und Waffen für das BIP. FAZ vom 11.8.2014. http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/illegale-aktivitaeten-sex-drogen-und-waffen-fuer-das-bip-13090550.html
(3) Quelle: http://wissen.spiegel.de/wissen/image/show.html?did=30158003&aref=image035/E0410/ROSP200401100520080.PDF&thumb=false.