Nachhaltige Entwicklung im volkswirtschaftlichen Unterricht
Nachhaltige Entwicklungim volkswirtschaftlichen Unterricht

Curriculare Zeitenwende in der Wirtschaftslehre: Das pandemische Bruttoinzidenzprodukt

August 2021

 

In der Corona-Krise erlebt das Bruttoinlandsprodukt als maßgebliche gesellschaftliche Ziel- und Steuerungsgröße einen nicht für möglich gehaltenen Bedeutungsverlust. Sind wir im Postwachstum angekommen? Welche Konsequenzen ergeben sich für die Wirtschaftsdidaktik?

 

Es sind schwierige Zeiten für alle. Sicher geglaubte Wahrheiten erweisen sich als brüchig. Im politischen und öffentlichen Leben ist es offensichtlich, doch macht die Erosion der Verlässlichkeiten oft recht schmerzhaft auch vor dem privaten Bereich keinen Halt. Sehr individuell sind die Konsequenzen für das Berufsleben. Vom Arbeitsplatzverlust über neue Lieferketten und bis hin zu alltäglichen Hygieneregeln werden wir von der legislativen und behördlichen Pandemie-Politik höchst unterschiedlich tangiert. Lehrer*innen gehören nach allgemeiner Auffassung eher zu den veränderungsresistenten Berufen...

 

Der Eindruck könnte täuschen. In der breiten Öffentlichkeit ist es kein Thema, doch entstehen für wahrheitsliebende (Wirtschafts-)Pädagoginnen und Pädagogen neue Konfliktfelder. Denn was sich im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit und Digitaltrends in den letzten Jahren bereits andeutete: Mit der Corona-Krise stößt die curricular seit Jahrzehnten versteinerte Wirtschaftslehre endgültig an ihre Grenzen. Die fröhliche Fortschreibung tradierter Lehrinhalte vermag das wirtschaftliche und politische Zeitgeschehen nicht mehr befriedigend zu erklären. Eine neue Diskussion über ökonomische Modelle (wie zum Beispiel die Modern Monetary Theory) sowie didaktische Prioritäten erscheint unausweichlich.

 

Als Belege können neue Lehrbücher dienen, die in jüngster Zeit auf dem volkswirtschaftlichen Schulbuchmarkt erschienen sind. Die gute Nachricht: Nachhaltigkeit findet dort (neben dem Digitaltrend) zunehmend Berücksichtigung – mit etlichen Jahren Verspätung und nicht in der Konsequenz, wie auf diesen Webseiten angeregt, aber nicht mehr zu ignorieren. Die Ausweitung auf die neuen Herausforderungen, zu denen sich nach Weltfinanz- und Euro- nun auch die Corona-Krise gesellt, führt dann jedoch entweder dazu, dass der Lehrgegenstand voluminöser und ggf. auch unübersichtlicher wird - oder aber Inhalte ausgedünnt bzw. ganz gestrichen werden müssen. Da Schulbuchverlage ohnehin häufig beim Seitenumfang geizen, sind Lehrbuchverfasser*innen meist zur zweiten Option gezwungen.

 

Neue curriculare Inhalte erfordern Streichungen bei alten

 

Doch welche Unterrichtsthemen (mit teils jahrzehntelanger Lehrtradition) soll man im aktualisierten Wirtschaftsunterricht verwerfen? Abhängig vom anvisierten Lehrplan sowie dem persönlichen Gusto der Autor*innen trifft es schon mal die Themen Umweltpolitik, Sozialpolitik oder Wirtschaftsordnungen (wo z. B. insbesondere die Zentralverwaltungswirtschaft als vermeintlicher Verlierer des Ost-West-Konflikts als obsolet betrachtet wird). Aus Sicht der Nachhaltigen Entwicklung in keinem Fall eine gute Entscheidung. Im Sinne der Wissenschaftspropädeutik dürfte die (wenn auch umstrittene) neoklassisch geprägte Mikroökonomie sakrosankt sein. In der Makroökonomie brachte es bisher kein Lehrbuchverfasser über das Herz, das in die Jahre gekommene Stabilitätsgesetz von 1967 („das magische Viereck“) ins wirtschaftsdidaktische Museum zu verschieben. Argumente dafür gäbe es genug...

 

Im Folgenden möchte ich nun weitere Argumente aufzeigen für einige, wenn nicht die zentralen makroökonomischen Unterrichtsthemen, die nichtsdestotrotz reif für eine Herabstufung wären: Ausführungen rund um die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, das Bruttoinlandsprodukt und insbesondere die Konjunktur.

 

Während unsere Schulbuchstudie ergab, dass die meisten Lehrbücher immerhin kritische Töne zur VGR und dem dort maßgeblichen Bruttoinlandsprodukt als Maßstab der Wohlfahrtsmessung finden, fehlt eine kritische wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung mit dem Konjunkturdiskurs bisher zur Gänze.

 

Irreführende Darstellungen der Konjunkturtheorie in Lehrbüchern

 

Bis heute existiert dort keine einheitliche Darstellung, insbesondere in puncto Grafiken. Mal wird auf der Ordinate des Koordinatensystems das BIP aufgetragen, mal dessen Zunahmen (das Wirtschaftswachstum), mal fehlt eine Beschriftung ganz. Da abhängig davon eine vollständig andere grafische Darstellung entsteht, wird hier einer irreführenden (und wachstumsgläubigen) Begriffsbildung seitens der Lernenden Vorschub geleistet. Entsprechend wird die Phase der Rezession mal mit sinkenden (aber positiven), mal mit negativen Wachstumsraten verbunden. Eine mathematisch-statistische Aufklärung findet hier nie statt.

 

Der Abgleich mit empirischen Wachstumsverläufen ist ebenfalls eine eklatante Leerstelle in der Schulbuchliteratur. Dass Konjunkturverläufe in der Realität von der schönen Regelmäßigkeit im Lehrbuch abweichen, müsste eine Standardübung im volkswirtschaftlichen Unterricht sein.

 

Irreführende bis manipulative Rezeption in Politik und Medien

 

Auf Grund der miserablen und unkritischen Aufarbeitung in der VWL vermochten es gesellschaftliche Stakeholder in der Vergangenheit immer wieder, mit Hilfe von unwissenschaftlicher Verwendung des Konjunkturbegriffs Stimmung für ihre Lobbyinteressen zu machen. Da auch der gängige Wirtschaftsjournalismus kaum für Klärung sorgt, wird mit der unzureichenden Begriffsbildung im volkswirtschaftlichen Schulunterricht eher der Boden für die Manipulation der öffentlichen Meinung bereitet. Die „Angst vor der Rezession“ diente in der vorpandemischen Zeit zumeist als maßgebliche Argumentation, die öffentliche Meinung auf unternehmensfreundliche Politikmaßnahmen zu eichen. Schon lange öffnete hier das Schlagwort „Die Wirtschaft“ als totum pro parte Tür und Tor für Konzerne, ihre institutionellen Profitziele als Volksinteressen zu verkaufen.

 

Viele der Argumente habe ich auf diesen Webseiten bereits ausführlich diskutiert. Tatsächlich sprächen viele davon sogar für eine Ausweitung der Thematik. Dahin gehend ließen sich auch viele meiner bisherigen Stellungnahmen der vergangenen Jahre interpretieren.

Nun kommen aber neue hinzu, die genau diese zentrale Position des Konjunkturthemas im VWL-Unterricht hinterfragen.

 

Grundsätzliche Abwertung des Konjunkturthemas durch Pandemiepolitik

 

Was macht eigentlich „Die Wirtschaft“? Vermissen Sie nicht diese Diskussion? Das beständige mediale Hintergrundrauschen aus Sorge um „Wachstum und Wohlstand“ ist in den letzten anderthalb Jahren zunehmend aus den Frontseiten der Gazetten verschwunden. Die Zahl der Artikel zum Stichwort „Konjunktur“ gemäß Online-Recherche bei der einschlägigen Tageszeitung „Handelsblatt“ nahm im ersten Halbjahr 2021 im Vergleich zum Vergleichszeitraum der Vorjahre um satte 50% ab(1) – und das, obwohl der massive Nachfrageeinbruch durch Lockdowns und weitere Coronamaßnahmen ein gesteigertes wirtschaftsjournalistisches Interesse nahegelegt hätte. Tatsächlich scheint die Politik zum ersten Mal seit Gründung der Bundesrepublik nicht mehr Bruttoinlandsprodukt, Konjunktur und Wirtschaftswachstum als oberste Leitlinien zu verfolgen. „Neuinfektionen“, „Inzidenzwerte“, „Intensivbetten-Register“ und neuerdings „Impfquoten“ hielten im Jahresablauf wechselweise zur Begründung von Hygienemaßnahmen her. Ihre Auswirkungen auf die Entwicklung ökonomischer Indices scheinen der politischen Öffentlichkeit dagegen nur noch eine Randnotiz wert zu sein. Abzuwarten bleibt, ob das von zu großen Teilen staatsfinanzierten Medien gepushte Katz-und-Maus-Spiel um Corona-Impfungen nach den Bundestagswahlen seinem Ende zusteuert oder erst den Auftakt zu weiteren Lockdowns darstellt. In letzterem Fall muss eine Abwertung des Konjunkturthemas auf lange Sicht in Erwägung gezogen werden.

 

BIP – Wirtschaftspolitische Folklore für Gestrige

 

Unabhängig davon, wie man zur Corona-Krise und ihren Hintergründen steht, ist schon seit Jahrzehnten eine graduelle Entmachtung der nationalstaatlichen Politikebene zu beobachten. Selbst wenn man dieser eine im Großen und Ganzen gemeinwohlorientierte Grundmotivation zugesteht, so ist offensichtlich, dass immer mehr Kompetenzen an EU-Institutionen sowie globale Organisationen abgetreten werden. Zusammen mit dem wachsenden Einfluss von Lobbygruppen und den auf nationaler Ebene de-facto nicht mehr regulierbaren Global Playern muss die Existenz einer nationalstaatlichen „Schicksalsgemeinschaft“, die gemeinsam einen statistischen Indikator namens BIP zum Wohle aller antreibt, längst als mediales Märchen betrachtet werden.

Das nationale BIP oder die deutsche Konjunktur haben mit dem Leben von Otto und Hilde Normalmensch in etwa noch so viel zu tun wie der Medaillenspiegel deutscher Olympioniken oder das Abschneiden des FC Bayern in der Champions League. Indem wir seine Bedeutung im Unterricht weiterhin überzeichnen, führen wir unsere Lernenden irre und unterstellen eine „Volksgemeinschaft“, die schon vor Corona nicht mehr glaubwürdig war. Kritische Kommentatoren zu geldpolitischen und geostrategischen Hintergründen wie Norbert Häring legen nahe, dass das pandemische Zeitalter (schon sprechen wir gesellschaftlich von der Zeit „vor Corona“ und der Zeit „seit Corona“) von neuen Allianzen von globalen Finanzmärkten, multinationalen Konzernen und Stiftungen, supranationalen Institutionen und durch globale Denkfabriken geschulte Politiker*innen geprägt wird, die eigene, demokratisch nicht legitimierte Agenden wie den Great Reset vorantreiben. Wenn überhaupt, sollte in solchen Regimes ein europäisches oder Weltsozialprodukt zentraler ökonomischer Bezugspunkt sein.

 

Willkommen im Postwachstumskapitalismus

 

Die mediale (und ggf. bald auch wirtschaftsdidaktische) Entwertung des Bruttoinlandsprodukts klingt nach der Erfüllung der kühnsten Träume engagierter Postwachstumsvertreter*innen. Doch wenn an seine Stelle die obigen Pandemie-Indikatoren fragwürdiger Aussagekraft treten und als Begleiterscheinung inhabergeführte und mittelständische Betriebe durch multinationale Konzerne kanibalisiert werden, sind wir damit besser beraten?

 

Ausgerechnet die Konjunkturthematik für eine curriculare Kürzung zu empfehlen, erscheint angesichts ihrer bisherigen Dominanz provokativ bis wagemutig. Die obigen Argumente haben aber  hoffentlich für eine Hinterfragung der bisherigen Stellung in Bildungsplänen und Lehrbüchern gesorgt. Wenn das Unterrichtsfach Volkswirtschaftslehre, das sich in der ausbildungsmarktgerichteten Kompetenzorientierung der Bildung schon länger für seine Existenz rechtfertigen muss, überleben will, erscheint es unausweichlich, nationalökonomische Inhalte zu kürzen in dem Maße, wie europäische und globale Institutionen das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben bestimmen.

 

(1) 2021-01/21-06: 1102 Treffer
2020-1/20-06: 1774 Treffer
2019-1/19-06: 1770 Treffer

 

Druckversion | Sitemap
© VWL-Nachhaltig