Nachhaltige Entwicklung im volkswirtschaftlichen Unterricht
Nachhaltige Entwicklungim volkswirtschaftlichen Unterricht

Konjunktur

Ökonomische Dimension:
Die Konjunktur entspricht per definitionem dem Verlauf des BIP, wird unterteilt in die vier Phasen Aufschwung (Expansion), Hochkonjunktur (Boom), Abschwung (Rezession) und Tiefstand (Depression). Leider sind die grafischen Darstellungen der meisten(!) Autoren an dieser Stelle recht ungenau, werden doch auf der Ordinate mal das Gesamt-BIP, mal seine Veränderungen gegenüber dem vorherigen Betrachtungszeitraum (BIP-/Wirtschaftswachstum) dargestellt.
In manchen Lehrwerken finden sich sogar falsche Darstellungen.

Die Standarddarstellung des Konjunkturzyklus sieht wie folgt aus (1):

Die Abbildung suggeriert einen Abfall des BIP während einer Rezession. Allerdings stellt dieser Fall, der im Jahr 2009 tatsächlich so massiv wie in 60 Jahren Bundesrepublik nie zuvor eintrat, einen Sonderfall dar. Lediglich in den Jahren 1975, 1982 und 1993 gab es ebenfalls einen (minimalen) Rückgang des BIP zu verzeichnen. In allen anderen sogenannten Rezessionsphasen stieg das BIP real auch weiterhin an, wenn auch mit verminderter Geschwindigkeit.

 

Der gleichen Illusion sitzt auch die Darstellung von boerse.de auf: Auch hier werden in der Rezession und in der Depression negative Wachstumsraten / Schrumpfung als  Standard unterstellt.(2)

Am unsinnigsten jedoch die folgende Darstellung (3):

Hier ist auf der Ordinate die Veränderung des BIP, d.h. das “Wirtschaftswachstum” aufgetragen. Da die Kurve beständig oberhalb der Nulllinie verläuft ist, wird zumindest dem Standardfall Rechnung getragen, nach dem auch in den meisten Rezessionen noch ein positives Wirtschaftswachstum auftritt. Doch ist der Aufwärtstrend des Wirtschaftswachstums grundfalsch. Wenn es einen Aufwärtstrend gibt, dann der des realen BIP in absoluten Zahlen (zur Kritik an dieser Annahme im Rahmen einer nachhaltigen Gleichgewichtsökonomie an anderer Stelle). Da in der realen Welt ein exponentielles Wachstum nicht durchhaltbar ist, bedeutet dies (für die Ökonomien der Industrieländer - in Schwellenländern lässt sich in der Boomphase über eine gewisse Zeit tatsächlich exponentielles Wachstum beobachten), dass das Wirtschaftswachstum (die Zunahme des BIP gegenüber dem Vorjahr) im Zeitablauf rückläufig ist. Die Wachstumskennziffern aller Industrieländer werden weltweit seit Jahrzehnten geringer. Selbst eine konstante Wachstumskennziffer bedeutet real, dass das absolute BIP (auf Grund der jährlich größer werdenden Grundgesamtheit) immer stärker steigen müsste. Der Trend in obiger Grafik müsste also Null oder eher sogar fallend sein!

 

Konjunkturverlauf in der Realität

 

So verläuft die Konjunktur in Deutschland und den meisten Industrieländern seit Jahrzehnten. Bei trendmäßig permanent ansteigenden BIP (Ausnahmen wurden erwähnt) schwankt das reale BIP im Konjunkturzyklus um den Trend, wobei es nur in Ausnahmefällen absolut fällt und ansonsten seine positive Steigung beibehält (obige Grafik).

Entsprechend die Wachstumskennziffern (untere Grafik): hier ist ein Auf und Ab zu verzeichnen, wobei die Kennziffer lediglich in Ausnahmefällen (z.B. 2009, 2020) unter die Nulllinie fällt.

 

Im Grunde ist die Verwirrung darauf zurückzuführen, dass die visuell so schön anschauliche Konjunkturphasentheorie zu wenig differenziert ist. Denn empirisch waren – wenigstens bis zur Weltfinanzkrise 2008/09 – die meisten Rezessionen und Depressionen immer noch Phasen positiven Wirtschaftswachstums. Der Fall der realen Schrumpfung fand kaum statt. Da hierin jedoch ein substantiell anderer Fall zu sehen ist, der auch ganz andere Reaktionen der Wirtschafts- und Geldpolitik erfordert, sollte eine empirisch-fundierte Konjunkturtheorie Konjunkturphase genauer unterscheiden:

  • Expansion: Phase zunehmender Wachstumsraten.
  • Hochkonjunktur: Über mehrere Jahre andauernd hohe Wachstumsraten

 

Je nach Höhe der Wachstumsraten während der dritten Phase lassen sich drei Fälle unterscheiden:

 

  • Konsolidierung: Phase der zurückgehenden Wachstumsraten (aber immer noch Wachstum!)
  • Stagnation/Stabilisierung: Phase des konstant bleibenden Inlandsprodukts, man spricht auch von "Nullwachstum".
  • Schrumpfung: das BIP geht real zurück, Phase negativer Wachstumsraten, schrumpfende Wirtschaft, real sinkende Indikatoren; dauert die Schrumpfung längere Zeit an, handelt es sich tatsächlich um eine gravierende Depression (Anhänger/innen der Degrowth-Bewegung würden diese Phase ggf. auch positiv bewerten).

Auf den Begriff der Rezession sollte verzichtet werden, da er in Wissenschaft und Medien inzwischen so uneinheitlich und unscharf definiert wird, dass er kaum noch zur Verständigung über die jeweilige Wirtschaftslage taugt.

 

Soziale Dimension:

Man könnte nun argumentieren, dass zum prinzipiellen Verständnis des Konjunkturzyklus solcherlei Genauigkeiten unerheblich sind. Dies geht aber an der gesellschaftspolitischen Bedeutung des Themas vorbei. Wenn während einer Rezession Appelle an die Bevölkerung gerichtet werden, den Gürtel enger zu schnallen, dann spielt es durchaus eine Rolle, ob der Verteilungsspielraum real rückläufig ist oder lediglich ein Rückgang der Zuwächse zu verzeichnen ist. Die Mehrheit der Lernenden hat während den Rezessionen der vergangenen Jahre auf Grund der Medienberichterstattung jedenfalls subjektiv das Gefühl gehabt, die Wirtschaft sei geschrumpft, ein Befund, der wiegesagt erst 2009 Realität wurde.

 

Des Weiteren nimmt die Diskussion um die aktuelle Wirtschaftslage den größten Raum in der Wirtschaftspresse ein, so dass der Eindruck entsteht, vor allem die Konjunkturpolitik sei der große "Arbeitsplätzchenbäcker". Dabei leicht gerät in Vergessenheit, dass die Konjunktur bestenfalls die Höhe der Wertschöpfung und periodische Schwankungen der unternehmerischen Nachfrage nach Arbeit beeinflusst, Arbeitsplätze aber vor allem auch durch die Branchenstruktur, regionale Strukturpolitik, die Subventions- und Steuerpolitik, das Sozialsystem, Unternehmensrecht und arbeitsrechtliche Bestimmungen gefördert werden können.

Konjunktur - Theorie und Empirie

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Das gesellschaftliche "Megathema" Konjunktur - Versuch einer zu Wachstumskritk und Nachhaltigkeit konsistenten Darstellung.

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Nachhaltiger Ökonomieunterricht sollte der Langfrist-Strukturpolitik mehr Raum geben als der Erklärung konjunktureller Phasen. Welche Wirtschaftszweige in welcher Region entstehen, ist für die Lebensqualität entscheidender. Im Übrigen mangelt es den üblichen Konjunkturtheorien auch an Realitätstauglichkeit. Die meisten Erklärungsansätze wie Unterkonsumtions- oder Überinvestitionstheorien wurden zu Zeiten relativ geschlossener Nationalökonomien entwickelt, in denen die ökonomischen Bestimmungsfaktoren noch in einigermaßen vorhersagbarer Weise zusammenhingen. Betrachtet man aber z.B. die beiden letzten großen Rezessionen 2001 und 2009, so entstanden sie in Folge geplatzter Spekulationsblasen am Neuen Markt bzw. im amerikanischen Immobilienmarkt. Die Aufschwünge der letzten 20 Jahre dürften auch den Marktausweitungen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und in aufschließende Schwellenländer geschuldet sein. Allzu simplifizierte Erklärungen der Konjunkturphasen verstellen den Blick auf die Komplexität der Realität oder finden einseitig die Lohnkosten als Grund für die Wirtschaftskrise. Ob das BIP steigt oder fällt, hängt genauso von weltweiten Finanzmärkten wie der Arbeitslosenquote in den USA, dem Leitzinsniveau der EZB, kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten, der Handelspolitik Chinas, gesellschaftlicher Hochstimmung während eines Fußball-Sommermärchens oder großflächigen Naturkatastrophen ab. Es macht heute wenig Sinn, eklektisch Theorien zur Konjunkturentwicklung anzubieten, wenn sie sich auf die globale Weltwirtschaft nicht mehr anwenden lassen. Selbst die renommiertesten Konjunkturforscher vermögen kaum die Entwicklung des Wirtschaftswachstums über ein Jahresquartal hinaus vorauszusehen. Der Vergleich der Wachstumsprognosen und des tatsächlichen Wachstums in den vergangenen Jahre zeigt, dass – platt gesprochen – die Befragung der Kristallkugel einer Wahrsagerin auf dem Jahrmarkt kaum schlechtere Ergebnisse bringen würde(4).

Lehrvideos der Tagesschau zum Thema Konjunkturprognosen

Etwas weiter geht der Wirtschaftsjournalist Ferdinand Knauß in seinem Beitrag für die WirtschaftsWoche. Er fordert darin einen Verzicht auf Konjunkturprognosen, die das Papier, auf dem sie gedruckt werden, nicht wert sind. (Man muss allerdings konstatieren, dass sein eigenes Magazin bis heute diesem Ruf nicht nachkommt.)

(1)  Quelle: http://www.pussep.de/anton/projects/selfwl/images/konjunkturverlauf.png

(2)  Quelle: http://static.boerse.de/images/grundlagen/bereich/Kap.6-S.3,1.gif

(3)  Quelle: www.glarusnet.ch/typo3temp/pics/1a62887d52.gif

(4)  Tabellen nach: http://www.pdwb.de/nd08.htm

(5)  Knauß, Ferdinand: "Exakte Vorhersagen sind unbrauhbar". WirtschaftsWoche vom 21.10.2013. https://www.wiwo.de/politik/konjunktur/konjunkturprognosen-exakte-vorhersagen-sind-unbrauchbar-/8961710.html

 

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